Schlagwort: jetzt und hier

Die Neujahrsrede: Kampf der Stagnität, Affe hin oder her – der Sack.

Heute habe ich in in alten Texten herumgestöbert und mich gefragt, warum ich sowas nicht mehr hinbekomme. Einfach aus dem Leben erzählen, aus dem Jetzt. Nicht so ein kryptisches Geschwurbel alle halbe Jahre, wie die letzten Male. Qualität statt Quantität ist ja gut und schön, aber das hier ist gerade eher Stagnität.

Ich bin die Königin der Stagnität, auch wenn ich lieber ein König geworden wäre, aber selbst mir ist das hier zu viel des Guten. Die Erde dreht sich schließlich weiter. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass sie sich wegen meiner Schwerfälligkeit minimal langsamer dreht, als sie es ohne mich tun würde.

Das neue Jahr ist erst vier Tage jung. Darüber gibt es nun wirklich noch nichts zu erzählen. Meine Frau besucht drei Tage ihren Onkel im wilden Osten. „Koks, Nutten und Schnaps!“, quiekt meine innere Drecksau. Ich weiß nicht, wie das Vieh darauf kommt, denn das haben wir noch nie gemacht, zumindest nicht alles und schon gar nicht gleichzeitig. Viel lieber genieße ich das Alleinsein, die Ruhe im Haus, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Natürlich kann ich das immer, aber jetzt tue ich es wesentlich exzessiver und habe nichtmal ein schlechtes Gewissen dabei.

Gestern bin ich zum Beispiel den ganzen Tag in Schlafanzug und Bademantel herumgelaufen. So richtig lebowskimäßig. Ich habe am Schreibtisch gesessen bis ich ab der Hüfte abwärts kein Gefühl mehr hatte und sinnlos am Laptop rumgedaddelt bis mir das Blut regelrecht aus den Augen quoll, gelegentlich unterbrochen von Nahrungsaufnahme und den damit verbundenen Toilettengängen. Hätte ich am Abend nicht die Biotonne vor das Haus rollen müssen, hätte ich das selbige nicht verlassen und die frische Luft des morgendlichen Stoßlüftens wäre die einzige geblieben. Ich bin quasi gerade eben noch einer Hirnschädigung wegen übermäßigem Mangel an Sauerstoff entgangen. Heute das gleiche mit dem gelben Sack. Aber angezogen bin ich zumindest, also so richtig, inklusive sauberer Unterhose. Abwechslung muss schließlich sein. Gestaubsaugt habe ich heute übrigens auch. Doch nicht so stagnatiös, was? Nein, geradezu aktiv für meine momentanen Verhältnisse. Bäms! Da habe ich es der Stagnität aber gegeben.

Das neue Jahr hat also definitiv noch Potenzial, aber ich will es nicht gleich am Anfang überstrapazieren. Das letzte Jahr war wirklich ziemlich aktionsreich. Ich bin endlich meine chronische Magenschleimhautentzündung losgeworden, die sich über zwei Jahre sehr penetrant bemüht hat, mich wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. Lange Geschichte, würde hier deutlich den Rahmen sprengen.

Reisefaul waren wir auch nicht gerade. Ein Kurztrip nach London, eine Woche in Dubrovnik und, das Highlight, Trommelwirbel, vier Wochen auf Bali. Verdammt viele Eindrücke, von denen zu viele schon längst wieder verblasst sind. Bali ist allerdings noch recht präsent. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn die Erde bebt und die eigene Frau im Straßenverkehr verunfallt und bewußtlos auf selbiger liegt. Erdbeben beängstigend, aber dennoch faszinierend. Bewußtlose Frau liegend auf der Straße, der ab-so-lu-te Albtraum. Beide Erlebnisse haben sich irgendwo im Sonnengeflecht festgezeckt und da werden sie wohl auch noch eine Weile sitzen.

Es lebe die Auslandskrankenversicherung. Leute, schließt eine Auslandskrankenversicherung ab. Wir haben das auch nie für nötig gehalten, trotz der vielen Rumreiserei. Für Bali haben wir es dann gemacht und gut war das.

Bali war trotz alldem toll, trotz der Erdbeben und den damit verbundenen Ängsten, trotz des abartigen Straßenverkehrs in manchen Orten, des Unfalls und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten, unbeschreiblich toll sogar – mit seinen wundervollen Ecken und Rundungen, den unglaublich herzlichen Menschen, der faszinierenden Kultur, dem für mich sehr angenehmen Klima, dem leckeren Essen, seiner Vielfältigkeit und unserem Glück im Unglück. Bali hatte im wahrsten Sinn seine Höhen und Tiefen und das nicht nur, weil ich bei Nacht auf einen Vulkan gestiegen bin, um mir den Sonnenaufgang anzusehen oder durch ein Schiffswrack getaucht bin. Die Erdbebenwelle hat einige unsere Pläne vereitelt. Wir wollten ursprünglich die Gilis bereisen und auch noch rüber nach Lombok, aber Lombok hatte es zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach auf den Kopf gedreht. Somit sind wir dann genau in die entgegengesetzte Richtung gefahren, auf der Flucht vor den Naturgewalten und ungewollt auch vor der Polizei, die uns nämlich gesucht hat. Kein angenehmes Gefühl. Sehr kuriose Geschichte, aber auch wieder zu lang, um sie hier weiter auszuführen. Ende gut, alles gut. Das muss reichen.

Der Norden Balis war zwar schön, aber auch langweilig. Für meine Frau mehr als mich, denn ich konnte wenigstens noch ins Wasser gehen, während sie es sich ab Mitte der Reise aufgrund ihrer Verletzungen nur noch ansehen durfte und ihr außer Essen, Lesen und mit dem Taschenmesser am Gipsverband sägen, nicht mehr viel blieb. Da nutzt das Bewusstsein, dass alles hätte schlimmer kommen können, auf die Dauer auch nichts. Verständlich. Überleben ist gut, leben ist besser.

Bali ist für mich noch lange nicht ausgereizt. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sich Bali überhaupt ausreizen lässt. Sicher bin ich mir allerdings, dass ich in diesem Leben dort unbedingt nochmal hin muss. Übrigens gibt es dort verdammt viele Affen und es würde mich nicht wundern, wenn mein vermisster wilder Affe dort untergetaucht ist und vorbildlich der Vielweiberei frönt. Der alte Lümmel. Ich würde es ihm gönnen.

So, und wenn Ihr denkt, das war es jetzt… nee, war es noch nicht. Neben dem spektakulären Weltengebummel haben wir nämlich auch noch ein Haus gekauft. Wir sind quasi aus Indonesien gekommen, haben die Koffer ausgepackt, die Klamotten gewaschen und direkt wieder in Umzugskisten eingepackt. Ungünstiger ging es eigentlich kaum, aber da hat das Haus eben keine Rücksicht drauf genommen. Zack, da war es und wir verliebt. Sehr emotionale Tage waren das, denn wir waren ja nicht die Einzigen. Doch schon als ich das Haus in der Anzeige zum ersten Mal sah, wusste ich, dass es unser Haus ist. Als ich zum ersten Mal drin war, fühlte ich, dass dieses Haus unser neues zu Hause sein wird und so kam es dann auch. Der Urlaub stand bereits, das Haus stand schon viel länger. Turbulente Wochen, aber wir haben es hingekriegt.

Wochenlang haben wir renoviert, kaum einen Tag Pause gemacht. Im Nachhinein wundert es mich, das ich nicht irgendwann den Pinsel mit der Zahnbürste verwechselt habe oder im Blaumann zur Arbeit gefahren bin. Es war anstrengend, aber es hat mir auch extrem viel Spaß gemacht. Keine Spur von Stagnität. Fußleisten verlegen, Steckdosen und Lichtschalter austauschen, alles Neuland, aber ich habe es hingekriegt. Der Heimwerkerlöwe in mir wurde geweckt. Ok, die Fußleisten sehen nur auf den ersten Blick richtig gut aus, aber wer guckt da auch zweimal hin, niemand. Knapp einen Monat nach unserem Baliurlaub sind wir umgezogen. Zwei Tage später verstopfte die frisch gefüllte Toilette und der Morgenschiss kam aus den Abflüssen von Dusche und Badewanne wieder zum Vorschein. An einem Sonntag. Für Außenstehende schwer zu glauben, dass ich an diesem Tag richtig Spaß hatte. Na gut, für meine Frau war es auch schwer zu glauben und die war alles andere als außenstehend. Allerdings war sie auch nicht so mittendrin, wie ich es war. Wäre eine schöne Geschichte, würde aber auch wieder den Rahmen sprengen. Zwei Wochen später war dann übrigens die Einweihungsparty. Das soll uns mal einer nachmachen.

Tja, jetzt sind wir tatsächlich Hausbesitzer, so richtig spießig, mit Kirschbaum, Komposthaufen, Schneeschüppen und irgendwelche Tonnen rechtzeitig an die Straße rollen und all so ein Zeug. Kennt man ja. Unser Haus ist übrigens schon über hundert Jahre alt und wenn ein LKW vorbei fährt, wackelt es ein wenig. Und dieses Wackeln fühlt sich tatsächlich haargenau wie der Beginn eines Erdbebens an. Ein leichtes Schaukeln und Vibrieren, eigentlich ein sehr schönes Gefühl, sofern es dabei bleibt. Keine Ahnung, was sich das Haus dabei denkt. Vielleicht möchte es mein Erdbebentrauma heilen, wer weiß das schon. Es ist eben nicht nullachtfünfzehn, etwas krumm und schief, definitiv sehr elastisch und urgemütlich. Wir fühlen uns wohl, auch wenn es dann und wann schaukelt und vibriert. Wer uns zum ersten Mal besucht, wundert sich, weil es nicht so aussieht, als seien wir im Herbst letzten Jahres erst eingezogen. Natürlich gibt es noch hier und da etwas zu tun. Wahrscheinlich wird das auch immer so bleiben. Ein Haus ist eben ein Haus. Aber es macht Freude etwas für das Haus und somit auch für uns zu tun, zu sehen, wie sich Dinge entwickeln und alles noch schöner wird. Wir genießen es.

Das neue Jahr, nun ist es da. Kleiner Reim zum Ende. Meine Erwartungen an das neue Jahr sind nicht besonders groß. Ich möchte wieder etwas mehr auf mich achten, meiner Seele und meinem Körper Gutes tun. Durch die Renovierungsphase habe ich vieles Schleifen lassen und danach irgendwie den Absprung nicht geschafft. Zu viel Bierchen, zu viel Essen, keine Bewegung. Yoga oft geschwänzt. Dies und das und jenes. Der Winter, die dunkle Jahreszeit, tut sein Übriges. Zu viel Glühwein und Lebkuchen gegen die innere Kälte und das Abmagern der Seele. Ich bin wieder leicht vom Kurs abgekommen, innen wie außen. Innen mahnt mich mein Magen bereits ab, außen die viel zu eng anliegenden Kleidungsstücke. Man muss mich nicht mehr fällen, um die Jahresringe zu finden.

In diesem Sinne werde ich mich dieses Jahr wieder als Pilger auf den Jakobsweg begeben. Der Weg ruft, zieht und zerrt an meinem Innersten, wie eine alte Liebe, ohne die man nicht dauerhaft leben kann. Ich muss wieder los! Ursprünglich wollte ich wie beim letzten Mal die gesamten Sommerferien ausreizen, aber habe es mir anders überlegt. Etwas Sommer möchte ich auch im neuen Häuschen verbringen und den schönen Garten genießen. Deswegen wird es eine andere Strecke und ich bin vermutlich im Sommer nur drei Wochen weg.

Ein weiterer Vorsatz ist natürlich auch, hier wieder mehr zu schreiben. Guter Start, würde ich sagen. Heute war das Augenbluten wenigstens nicht vollkommen umsonst. Ich bin stolz auf mich! Ach ja, im Lotto gewinnen möchte ich übrigens auch noch, damit ich mir Stagnität leisten kann, wann, wie lange und wo immer ich möchte. Soviel zu den bisherigen Plänen für Zweitausendneunzehn. Neues Jahr, neues Glück.

Und Ihr so?

Von der Mitte des Lebens und von einer geplanten Rebellion mit Reis, die niemals stattfand

Das muss sie sein, die berühmteste aller Lebenskrisen, die Krise unter den Krisen, die im mittleren Alter ganz urplötzlich zuschlägt.

Eine aller Wildheit entwachsene und beständige Beziehung, verlässliche Freunde, eine solide Arbeit mit ausreichendem monatlichen Einkommen, Haus, Auto, Urlaub mit gelegentlichen Reisen außerhalb Europas, nicht rundum gesund, aber auch noch nicht tot – alles gute Vorraussetzungen, damit es noch ein paar Jahrzehnte relativ problemlos so weiter geht, zumindest was die eben aufgezählten Faktoren angeht. Und das ist das Problem an der Problemlosigkeit. Es ist so verflucht absehbar.

Mein Körper wird nicht mehr jünger und was jetzt hängt, hängt morgen nur noch tiefer. Ich werde kein Pianist mehr, ich werde kein Künstler mehr, ich werde kein Schauspieler mehr, ich werde kein Frauenheld mehr, ich werde weder reich noch berühmt, ich wandere auch nicht mehr ins Ausland aus, ich schreibe wahrscheinlich nicht einmal mehr ein Buch, auch wenn das der einzige Traum ist, den ich noch nicht vollkommen aufgegeben habe.

Nichts von all dem was ich werden wollte bin ich geworden. Geworden bin ich stattdessen was ich niemals werden wollte. Langweilig und unsichtbar. Letzteres ist Fluch und Segen zugleich, aber das würde jetzt den Jammer-Rahmen sprengen.

Irgendwann hat das Außen das Innen altersmäßig überholt und was anfangs noch nicht ins Gewicht fiel, hat jetzt sichtbares Übergewicht. Die Altersdiskrepanz ist mittlerweile so groß, dass mein Körper großelterliche Gefühle für mein Innenleben hegt. Innen möchte ich noch die ganze Welt verändern, außen fällt es mir manchmal schon schwer, die Pyjamahose gegen eine Jogginghose zu tauschen.

„Genug war früher nie genug für mich. Heute ist mir nichts schon viel zu viel.“, singt Faber in einem seiner Lieder. Treffender könnte ich es gar nicht beschreiben.

„Das kann doch nicht alles sein!“, protestiert mein innerer Peter Pan und möchte losfliegen, während ich mich ächzend mit morgendlich steifen Gelenken treppabwärts Richtung Küche bewege, um mir einen weiteren Kaffee zu holen, obwohl mir mein Magen schon die erste Tasse nicht verzeiht. Ich bin noch kein Fünfzig und fühle mich bereits wie mindestens Siebzig. Das ist doch scheiße! Ich kann nur hoffen, dass der Graben zwischen meinem Körper und mir mit zunehmendem Alter geringer wird und nicht noch größer, denn sonst falle ich irgendwann hinein.

Gleich fahren wir in ein schwedisches Möbelhaus und kaufen Dinge, die wir gar nicht wirklich brauchen, um weiter einen Grund zu haben, uns über das viele Zeug zu beschweren, welches sich im Laufe der Zeit ansammelt. Dann werde ich dort etwas essen, obwohl ich keinen Hunger habe, damit ich auch weiterhin einen Grund habe, mich über das Fett zu beschweren, welches mir mehr und mehr die Sicht zu meinem Geschlechtsteil versperrt.

Vielleicht aber mache ich auch irgendwas total Verrücktes, springe in der Bettenabteilung von Matratze zu Matratze, ziehe mich im Badezimmer einer Musterwohnung aus und steige unter die Musterdusche (Mustertoiletten sind ja mittlerweile gesichert), bewerfe irgendjemanden mit Gemüsebällchen oder, jetzt wird es vollkommen absurd, wechsle einfach mal die Beilage, esse Reis statt der üblichen Pommes und stelle damit die Welt ein wenig auf den Kopf. Meine Welt zumindest, denn ich mag Pommes viel lieber als Reis. (Durch Reis verdiene ich zur Zeit meinen Lebensunterhalt und brauche in deshalb nicht auch noch in meiner Freizeit. Jetzt fragt ihr euch sicher alle, wo der liebe Rocko wohl arbeitet. Ich werdet es niemals erraten.) Wenn ich danach noch Energie habe, setze ich noch eins drauf und lasse einfach das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr auf dem Tisch sehen. Die Rebellion des Rocko Kakoschke.

Eine Stunde später.

Wir sind nicht in besagtes Möbelhaus gefahren und haben stattdessen im Supermarkt gegenüber lauter Lebensmittel gekauft, die wir nicht brauchten, was irgendwie in die selbe Richtung geht, besonders bezüglich des Sichtverhältnisses zu meinem Geschlechtsteil. Essen, der Sex des Alters. Ist nicht nur ein Mythos, lasst es euch gesagt sein.

Der glatte Boden im Supermarkt animierte mich, durch den Süßigkeitengang zu schlittern. Und mit einer mißlungenen Pirouette wäre ich fast in das Schokoladenregal gekracht. Mission ungewollt erfüllt, würde ich sagen. Ich gebe zu, es wäre weitaus spektakulärer gewesen, wäre ich tatsächlich in das Schokoladenregal gekracht. Es ist also definitiv noch Luft nach oben, was den Richtungswechsel in meinem Leben angeht und somit scheinbar nicht vollkommen aussichtslos. Der Anfang ist gemacht. Vielleicht schreibe ich ja wirklich noch ein Buch.

Rocko rockt den Supermarkt des Lebens. Und ihr werdet alle dabei sein. Irgendwann.
Bis dahin passiert erstmal…

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Oder zumindest nicht viel.

S.

Während meiner Zeit in Indonesien schriebst Du mir eine Nachricht.

Wie es Dich freut, dass ich glücklich zu sein scheine, Du meine Beiträge verfolgst, ich das alles verdient habe und Du es mir von ganzem Herzen gönnst.

Ich war überglücklich über Deine Nachricht nach all den Jahren, antwortete Dir, dass ich gerade unterwegs sei und vertröstete Dich auf später. Ich wollte Dir schreiben, aber hatte Dir so unendlich viel zu erzählen, dass ich es ewig vor mir her schob. Ich wartete auf den richtigen Moment, die Muße, um die letzten Jahre zusammenzufassen, das Leben, welches mehr ein Über-Leben ist. Glück ja, aber immer wieder hart erkämpft. Wenn sich Steine auf die Seele legen, ist die Schwerkraft der größte Feind.

Tag um Tag verging. Woche um Woche. Monate.

Anfang dieses Monats bist Du gestorben. Krebs. Ich wusste nicht, dass Du krank warst und dass es Abschiedsworte waren, die Du mir schriebst. Jetzt lese ich Deine Nachricht mit anderen Augen und mache dem Leben Vorwürfe, dass es mir nicht die Möglichkeit gelassen hat, Dich noch einmal in der Arm zu nehmen.

So oft habe ich an Dich gedacht, mir vorgenommen, mich bei Dir zu melden und Dir aus meinem Leben zu erzählen. Ich wollte so gerne Deinen Mann kennenlernen, weil ich neugierig war, wissen wollte, ob er ihm vielleicht ähnlich ist. Ihn, den wir beide so sehr geliebt haben. Ihn, dessen Taschentuch ich an meinem Rucksack zu Fuß durch halb Spanien getragen habe, um es am Cruz de Ferro zurück zu lassen, in der Hoffnung, ich könnte auch ihn dort zurück lassen.

Davon wollte ich Dir erzählen. Nur wir beide, bei einem Bier, wie früher. Ich wollte Dir erzählen, dass es vielleicht ein Leben ohne ihn gibt, aber es dieses Leben für mich niemals gab. Und ich hätte Dir mein Leben gerne gezeigt. Diese hässliche Stadt in der ich seit Jahren wohne, aber die mittlerweile mein zu Hause ist, der Stadtteil mit seinem schönen Schlosspark, unser kleines Häuschen, die tapfere Frau an meiner Seite, die mit mir gegen die Schwerkraft kämpft, weil sie mich liebt, und das, obwohl der Großteil all meiner verfügbaren Liebe auf ewig von der Vergangenheit verschluckt wird.

Das kann ich nun nicht mehr tun und es kommt regelmäßig zu diesem kurzen Moment, Sekunden nur, in denen mich diese Erkenntnis wie ein Keulenschlag hinterrücks zu Boden knüppelt, mir damit die Luft aus dem Lungen presst und mich vollkommen fassungslos macht. Ein Stein mehr auf meiner Seele und das Gefühl, ihn mit Dir noch ein Stück mehr verloren zu haben.

Ich habe überlegt, zu Deiner Beerdigung zu fahren, aber habe mich dann dagegen entschieden. Du bist längst woanders. Alles was und jeden den ich dort vorgefunden hätte, wollte ich nicht sehen. Von Dir verabschieden kann ich mich überall auf dieser Welt. Irgendwann werde ich wieder zu Fuß Spanien durchqueren und dann nehme ich Dich mit zum Cruz de Ferro.

Ob sich für Dich das erfüllt hat, wonach ich mich seit bald neunzehn Jahren sehne? Irgendwann werde ich es erfahren. Bis dahin kämpfe ich weiter gegen die Schwerkraft, halte die Stellung, gebe nicht auf, versuche die Steine von meiner Seele zu schütteln, wie Staub aus einem alten Tischtuch. Das bin ich Euch schuldig – Dir und ihm.

Jeder Tag ist so verdammt kostbar. Immer wieder die selbe Lektion. Das Leben ist selten fair, aber dafür umso lehrreicher. Doch ich bin ein schlechter Schüler. Was ich heute weiß, habe ich morgen schon wieder vergessen und statt zu leben überlebe ich weiter am Leben vorbei, warte auf den richtige Moment, um ihn am Ende zu verpassen.

Vielleicht aber ist einfach alles eine Frage der Wiederholungen, so wie damals, beim kleinen Einmaleins. Das habe ich schließlich auch gelernt und kann es noch heute.