Schlagwort: Rocko und Karl

„Böse“ Jungs

Unsere Jugend war geprägt von Akne, wilden Fummeleien auf Discotoiletten und damit verbundenen unkontrollierten Samenergüssen. Manchmal reichte schon ein unzüchtiger Gedanke oder der Anblick nackter Brüste, auch auf Papier, und schon brauchten wir unser bestes Stück gar nicht erst in fremde Hände zu legen, manchmal nicht mal mehr in die eigenen. Das war in Gegenwart eines weiblichen Wesens immer etwas peinlich, aber mit zunehmender Erfahrung kam eine gewisse Routine mit ins Spiel und irgendwann hatten wir unsere aufblühende und wie Unkraut ungezähmte Männlichkeit zumindest einigermaßen unter Kontrolle.

Trotz seines pickeligen Gesichtes und dem schlaksigen Erscheinungsbild war Rocko damals schon ein Frauenmagnet, ganz im Gegensatz zu mir. Zwar sah ich definitiv besser aus, aber landete meistens nur als guter und verständnisvoller Freund artig sitzend, bei einer Tasse Kaffee oder einem Minztee, am Küchentisch oder auf dem Sofa, statt als leidenschaftlicher Liebhaber in diversen Betten. Gegen die „bösen“ Jungs hatte ich einfach keine Chance. Ich war der, der die Tränen trocknen durfte, wenn eben diese Jungs nicht vor gewünschter Romantik strotzten und von ersehnter Beziehungsfähigkeit waren. Ich war das, was heute allgemein als Frauenversteher bezeichnet wird – das offene Ohr, der Ratgeber, die Schulter zum Anlehnen. »Ach wäre er doch nur so wie Du.«, wie oft habe ich das gehört. Ich war, was sie wollten und war es dennoch nicht. Tatsächlich war ich kein Frauenversteher, denn ich habe die Frauen nicht verstanden und verstehe sie bis heute nicht.

Doch ganz leer ging ich natürlich nicht aus, denn zu meiner Rettung war ich mit Rocko befreundet, und dessen verwegene Aura strahlte gewissermaßen für uns beide. Das hatte zwar oft den Nachtteil, in unangenehme Situationen zu geraten, machte mich zu meinem Glück aber für das weibliche Geschlecht ausreichend interessant, um Küchentische auch mal weitläufig umgehen zu können und auf Sofas den „bösen“ Jungen zu geben. Bis ins Schlafzimmer schaffte ich es tatsächlich selten, als sei es das Allerheiligste, in das nur dem Auserwählten Einlass gewährt wird. Vielleicht war es aber auch einfach der Raum, in dem es aussah wie Kraut und Rüben und der somit als nicht vorzeigbar erachtet wurde.

Rocko, oftmals ein Rüpel vor dem Herrn, dennoch von selbigem gesegnet mit einem scheinbar unwiderstehlichen Charme, bekam immer die hübschesten Mädels ab, was ich als sehr ungerecht empfand, da er es überhaupt nicht zu schätzen wusste. Er war seinen Hormonen zu dieser Zeit so bedingungslos ausgeliefert, dass die Optik einfach vollkommen nebensächlich war, solange sie ihn ran ließ und tat, was die pummelige Greta mit dem Silberblick damals beim großen Johannes mit dem Hinkefuß getan hatte.

Doch ich möchte mich nicht über Rocko beschweren, denn er sorgte in dieser Beziehung wirklich gut für uns. Hin und wieder mussten wir zwar auch unsere eigenen Beine in die Hand nehmen, denn manches Mädchen war bereits in festen und oft auch sehr großen Händen, die uns gerne eins auf die Nase gehauen hätten, aber das war es wert. Im Grunde war das fast genauso wie früher, wenn wir irgendwas gerettet haben, nur waren die Objekte unserer Begierden mittlerweile wesentlich heißer als Frau Kneers Bratklopse und die Gefahr sich die Finger zu verbrennen somit wesentlich größer.

*

Unsere zweite Leidenschaft neben der Damenwelt galt damals der Musik. Die Stones hatten es uns besonders angetan, wer hätte das gedacht. Wir gaben uns alle Mühe unseren Idolen nachzueifern und die ostdeutschen Stones zu werden. Unseren Habitus hatten wir diesbezüglich schon ausreichend kultiviert, aber unsere musikalischen Bemühungen waren noch etwas verbesserungswürdig, um es mal vorsichtig zu formulieren. Rocko war zwar ein echt guter Sänger, aber an der Gitarre eine totale Niete und ich machte am Bass auch keine wesentlich bessere Figur. Irgendwann mussten wir einsehen, dass ein cooles Erscheinungsbild nicht alles ist und wir nicht umhinkamen, uns dringend Verstärkung zu organisieren, um uns musikalisch auf ein unseren Vorstellungen entsprechendes Niveau zu bewegen.

Der Versuch, eine Band zu gründen, scheiterte allerdings irgendwann an potentiellen Bewerbern und die pummelige Greta mit dem Silberblick, die zwar nicht mehr pummelig war, aber immer noch links an einem vorbei sah, wenn sie mit einem sprach, verbesserte das Gesamtbild mit ihrem Tambourin auch nicht gerade, weil sie regelmäßig am Tambourin vorbeischlug. Zudem verschlechterte sie unsere Chancen bei den übrigen Mädchen, weil viele dachten, sie sei Rockos feste Freundin. Wir wurden uns einig, dass es erstmal besser war, die Band aufzulösen und unsere Bemühungen, die ostdeutschen Stones zu werden, auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen. Unsere Zeit würde irgendwann kommen, daran hatten wir nicht den geringsten Zweifel, und dann… Rock ’n‘ Roll Baby, aber so richtig.

Karl der Großherzige

Heute möchte ich über Karl schreiben, weil ich finde, dass er hier auch eine Seite braucht. Schließlich ist er ja ein Teil unserer literarischen Dreifaltigkeit. Karl selbst kriegt das irgendwie nicht hin. Überhaupt lässt seine virtuelle Präsenz allgemein etwas zu wünschen übrig. Er hat wohl gerade alle Hände voll zu tun, weil seine Schäfchen etwas aus dem Ruder gelaufen sind. Tja, Augen auf bei der Berufswahl, sage ich immer!

Karl Lebowski ist mein bester Freund und das schon gefühlt mein ganzes Leben lang. Vermutlich schon das Leben davor. Nein, ganz sicher schon das Leben davor! Und wahrscheinlich auch das Leben vor dem Leben davor.

Lebenspraktisch könnten wir gegensätzlicher wohl kaum sein. Er, ruhig und bedacht, strebsam und aufopfernd. Ich, ein ewiges egozentrisches Wollknäuel, unlösbar in sich selbst verstrickt, immer mit dem Kopf gegen die Wand, zwei Schritte vor und einen zurück. Karl nennt das übrigens immer meinen persönlichen Tanzschritt.

Karl wird immer irgendwie von einem hellen Schein umgeben. Ich dagegen habe bereits Patina. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Karl ist der kleine Bruder von Jesus, den die Geschichte irgendwie unterschlagen hat. Wären wir Hemden, wäre er das gebügelte und ich das zerknautschte. Er ist eine Mischung aus Obi-Wan-Kenobi und C3PO und ich bin eher so Lando Calrissian trifft Jar Jar Binks. Oder für die, die mit Star Wars nichts anfangen können – es soll tatsächlich solche Menschen geben, auch wenn ich das kaum glauben kann – Karl ist eher so Winnetou und ich bin mehr Old Shatterhand. Der alte Mann und das Meer, Robin Hood und Will Scarlett, Meister Eder und sein Pumuckl, Weißwein und Bier, Kartoffelgratin und Pommes, …
Ok ok, ich hör‘ ja schon auf!

Karl weiß unglaublich viele Dinge und ist ein toller Lehrer. Und auch wenn ich oft so tue, als sei ich vollkommen genervt von seiner Klugscheißerei (ok, manchmal bin ich es wirklich) und der Tatsache, dass er mir immer nur eine Hand voll Krümel hinwirft und mich dann auf die Suche nach dem ganzen Brot gehen lässt, statt es mir direkt in belegten Scheiben zu servieren, bin ich ihm unendlich dankbar, weil ich ohne ihn nicht der Mensch wäre, der ich heute bin. Nie hat er sich über mich gestellt und das würde er auch niemals tun, obwohl er meist über allem zu stehen scheint. Ich bin es manchmal selbst, der seinen eigentlichen Wert verkennt. Und dann taucht Karl auf, wie aus dem Nichts, und zeigt mir, was in mir steckt. Und manchmal, aber wirklich nur sehr selten, lässt er mich einen kurzen Blick auf den Menschen werfen, der ich irgendwann sein werde, weil er mich besser kennt, als ich mich selbst.

Bei uns ging es aber auch nicht immer nur tiefgründig zu. Manchmal waren wir auch ganz schön abgründig, was man gar nicht glauben mag, wenn man Karl so kennt. Muss mein positiver Einfluss gewesen sein. Keine Ahnung, wie viele biergeschwängerte und grasverrauchte Nächte wir uns schon um die Ohren geschlagen haben. Ich gebe zu, in den letzten Jahren sind wir in dieser Beziehung zunehmend bequemer geworden, was auch keine Schande ist. Ich erinnere mich gerne an die gute alte Zeit, aber sie fehlt mir auch nicht. Nicht mehr. Muss an zunehmender Altersweisheit liegen oder so.
Am nächsten Tag auf dem eigenen Teppich aufzuwachen hat einfach zu viele Vorteile, die ich hier jetzt nicht im einzelnen erläutern möchte. Das bringt mich nur vom eigentlichen Thema ab.

Karl nervt mich immer damit, ich solle mal ein Buch über uns schreiben, dabei ist meines Erachtens er der Schriftsteller von uns beiden. Er ist so der Typ John Irving küsst Éric-Emmanuel Schmitt, was ich ausgesprochen charmant finde, während ich eher so schreibe, als hätten Bukowski und Rosamunde Pilcher nach einer durchsoffenen Nacht ein strubbeliges Katzenbaby gezeugt.

Ich verzettle mich schon wieder. Auch so eine Sache in der wir total verschieden sind. Karl hätte sich mehr auf das Wesentliche konzentriert und die Dinge auf den Punkt gebracht. Lehrer eben.

Was gibt es noch von Karl zu sagen? Karl ist der, der alle zu lieben scheint. Er hat für alles und jeden Verständnis, als sei er unfähig die dunklen Facetten des menschlichen Daseins zu sehen. Vielleicht misst er ihnen aber auch nur nicht so viel Bedeutung bei, im Gegensatz zu uns. Karl ist unglaublich humorvoll und kann auch über sich selbst lachen. Er ist ehrlich, weise, liebevoll, verlässlich, niemals nachtragend, aber manchmal sehr direkt. Ab und an ist er etwas langweilig und oldschool, aber das macht seinen persönlichen Charme aus. Karl liebt die Natur, vom höchsten Berg bis zum kleinsten und lästigsten Insekt, und ich glaube, die Natur liebt ihn in tausendfacher Intensität zurück. Zumindest wirkt es auf mich immer so. Er hätte auch eine wundervolle, stattliche alte Eiche abgegeben – Schattenspender, Nistplatz und Ruhepol.

Danke, Karl, dass Du meine Eiche bist und ich mich immer an Dich lehnen kann, wenn mir der Halt fehlt, um aufrecht zu stehen! Und bevor ich jetzt noch richtig sentimental werde, höre ich lieber auf. Soll ja niemand wissen, dass ich gar nicht so ein harter Hund bin, wie ich immer vorgebe zu sein.

Wäre Karl jetzt übrigens hier, würde er sagen, was er immer sagt, wenn ich ihm für irgendetwas danke:

»Dank nicht mir, Rocko, dank dir selbst!«

Karl ist mein bester Freund und das schon gefühlt mein ganzes Leben lang. Vermutlich noch das Leben danach. Nein, ganz sicher noch das Leben danach! Und wahrscheinlich auch das Leben nach dem Leben danach.

Karl erzählt

Sesselsurrealismus

Es ist schon wieder vierzehn Uhr und ich frage mich, wo die Stunden hin sind. Ich sitze in meinem Sessel und trage noch meine Schlafklamotten. Eine kurze und dünne Baumwollhose und mein Superman-Shirt. Was soll das auch für einen Sinn machen, eine kurze Hose gegen eine kurze Hose und ein Shirt gegen ein Shirt zu tauschen, nur weil man vorher drin gepennt hat? Wenn man sich Nachmittags für ein Schläfchen auf das Sofa haut, zieht man sich doch auch nicht erst um.

Würde ich mit meinen Schlafklamotten in den Supermarkt gehen, niemand würde es merken. Es würde übrigens auch niemand merken, wie witzig es ist, in einem Superman-Shirt einen Supermarkt zu betreten. Liegt aber vielleicht auch daran, weil Supermärkte im allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel nicht Supermarkt heißen, sondern bei ihren speziellen Eigennamen genannt werden. Wenn ich sage, ich gehe mit meinem Superman-Shirt in den Aldi, finde ich das auch null witzig.

Karl liegt auf dem Sofa und hört sich mein Gedankenwirrwarr an. Zwischendurch nickt er oder macht hm-hm. Manchmal nickt er auch und macht zeitgleich hm-hm. Oder zieht das hm in die Länge, etwa so: Hmmmmmm….
Das ist dann auch schon alles, und irgendwie reicht mir das auch gerade. Mehr brauche ich nicht. Einen von Karls oberschlauen Lehrervorträgen könnte ich heute sowieso nicht ertragen, und ich glaube, er weiß das.

Ich komme mir ein bisschen vor, wie beim Therapeuten, mit dem Unterschied, dass mein Therapeut liegt und ich sitze. Und gratis ist es auch, heute zumindest. Sonst kostet mich Karl nämlich hin und wieder ein paar meiner zuckenden Nerven, weil er ständig versucht, mich auf den Pfad der Erleuchtung zu führen. Heute allerdings nicht. Keine Schlaumeiereien, keine zuckenden Nerven.

Irgendwie fühle ich mich heute ziemlich verloren, aus Gründen. Ich fing schon vorgestern an, mich zu verlieren. Heute bin ich nur noch undeutlich zu erkennen, irgendwie wächsern, und wenn das in dem Tempo so weiter geht, wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen gar nicht mehr wahrnehmbar. Ich werde durchsichtig sein und es wird aussehen, als habe ich wie ein Chamäleon die Farbe des Sessels angenommen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob jemand nach etwas aussehen kann, wenn er nicht mehr zu sehen ist.

Karl hat sich schon lange nicht mehr gerührt und auch schon einige Minuten keines seiner lehrerhaften Hm-hms von sich gegeben. Ich frage mich, ob er mich noch sehen kann, traue mich aber nicht, mich irgendwie übermäßig bemerkbar zu machen, weil ich Angst habe, dass sich meine Befürchtungen bewahrheiten könnten.

»Mach dir keine Sorgen, Rocko. Wer bereit ist, dich zu sehen, wird dich sehen, auch wenn du dich selbst aus den Augen verlierst. So ist das übrigens bei allen Dingen auf dieser Welt. Der Mut zur Sehhilfe ist das Entscheidende.«

Karls plötzliche Worte erschrecken mich so sehr, dass mir fast die Kaffeetasse aus der Hand fällt. Dabei merke ich, dass sie längst leer ist. Ein wenig Milchschaum klebt eingetrocknet am Tassenrand. Ganz ohne Erleuchtung ging’s dann wohl doch nicht. Mein linkes Augenlid beginnt leicht zu zucken.

»Übrigens kann man dich auch bald riechen, wenn du so weiter machst. Da kannst du unsichtbar sein, wie du willst. Auch die Blinden werden dich finden.«, Karl setzt sich auf und schenkt mir ein breites Grinsen, bevor er aufsteht, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

»Du Witzbold!«, ich werfe ihm eine Schachtel Streichhölzer hinterher, weil gerade nichts anderes greifbar ist und ich ein Buch dann doch für zu gewagt halte. Ich bereue meinen Entschluss allerdings ziemlich schnell, weil der Inhalt der Schachtel sich im Flug quer durch das Zimmer verteilt, bevor die Schachtel selbst unter den Tisch segelt. Hätte ich mal ein Buch genommen. Karl öffnet sein Bier, prostet mir zu und lehnt sich lässig an die Küchenanrichte.

»Also ich hätte ja eines der Bücher da unten genommen,… schon aus rein physikalischen Gründen.«, sagt er und zeigt auf den stetig wachsenden Bücherstapel neben meinem Sessel.
Jetzt zuckt auch ein Teil meiner Unterlippe.

Kirchenglocken läuten, es ist schon sechs. Verrückt, wo sind denn die letzten vier Stunden schon wieder hin? Im Lokal unter meinem Fenster läuft Fussball. Deutschland spielt, es ist nicht zu überhören. Einigkeit und Recht und Freiheit.
Brot und Spiele, um das Offensichtliche vorübergehend unter den Stadionrasen zu kehren, wo die zuvor besungenen Werte schon lange vergraben liegen. Bemerkenswert, wie gut dieses Prinzip schon seit Jahrhunderten immer wieder funktioniert. Vielleicht ist ja wirklich nicht die Unsichtbarkeit das Problem.

Apropos Brot und Spiele: Langsam kriege ich Hunger.
Und pinkeln muss ich auch.

Tor für Deutschland.