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Wilma will es noch wissen

Wilma | (c) Antje Münch-Lieblang

Das ist Wilma! Ist sie nicht schön?

Wilma ist ein Mercedes Hymermobil 307 D, Baujahr 1978 und somit genauso alt, wie ich – knackige 43 Jahre. Verrückt oder? Und es kommt noch viel verrückter, denn Wilma gehört mir! Was aber das Verrückteste an all dem Verrückten ist, ist die Geschichte, wie Wilma und ich trotz Umweg zueinander gefunden haben.

Kennst Du das? Du weißt etwas, ohne zu wissen, warum Du es weißt? Und ich meine nicht vermuten oder ahnen, sondern wirklich wissen, ganz tief im Inneren, so sicher, als sei es bereits irgendwo in Stein gemeißelt. Sowas ist mir im Laufe meines Lebens schon sehr oft passiert, so oft, dass ich mich eigentlich gar nicht mehr darüber wundern dürfte, tue es aber dennoch immer wieder. Und so war das auch bei Wilma und unserer bemerkenswerten Geschichte.

Ich begegnete Wilma zum ersten Mal am 30. Mai, einem Sonntag. Ich sah die Fotos, las die Anzeige und wusste einfach, das ist mein Wohnmobil, meine Wilma. Ich war verliebt, auf den allerersten Blick!

Die Anzeige war vom Vormittag und wider meiner täglichen Gewohnheit, mehrmals am Tag den Markt nach Wohnmobilen abzugrasen, kam ich an diesem Tag erst gegen Abend dazu. Ich rechnete also nicht damit, der erste Interessent zu sein, aber zumindest dachte ich, es besteht die Möglichkeit, mir Wilma wenigstens mal live anzusehen und möglicherweise mit ins Rennen zu gehen. Ohne lange zu überlegen, schrieb ich ihre Besitzer an, die mir ungefähr zwei Stunden später mit Bedauern antworteten, dass sie mit so vielen Anfragen gar nicht gerechnet haben und Wilma soeben leider verkauft worden ist.

Ich konnte es nicht fassen, war tieftraurig und auch völlig irritiert. Wie konnte das sein, wo ich mir doch so sicher war, dass Wilma und ich zusammengehören? Aber würden wir wirklich zusammengehören, wäre Wilma jetzt nicht das Wohnmobil von jemand anderem. Konnte ich mich so getäuscht haben? Es erschien mir, als sei irgendeine natürliche Gesetzmäßigkeit plötzlich außer Kraft geraten.

Stell Dir vor, Du hast einen Apfel in der Hand, lässt ihn einfach los und erwartest, dass er zu Boden fällt, weil das schon immer so war und Du ja auch gelernt hast, dass das so sein muss. Der Apfel fliegt aber stattdessen an die Decke. So war das in dem Moment, als ich las, dass Wilma für mich verloren ist.

Ich fand mich damit ab. Was sollte ich auch tun? Dennoch ließ mich Wilma nicht mehr wirklich los. Ich behielt sie auf der Favoritenliste, weil der Zugriff auf die Anzeige dann weiterhin möglich ist, obwohl sie offiziell nicht mehr erscheint. So konnte ich mir wenigstens noch die Fotos von Wilma ansehen und sie war zumindest auf diese Weise noch da.

Die Suche nach einem geeigneten Gefährt ging weiter, wenn auch eher halbherzig, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich etwas Vergleichbares niemals finden würde, denn bei Wilma stimmte einfach alles. Als hätte ich meine Vorstellungen von einem Wohnmobil beschrieben und jemand hätte eines nach diesen Vorstellungen geschaffen und obendrauf noch ein wenig verbessert.

Ich suchte irgendwann auch gar nicht mehr nach dieser Art von Wohnmobil, weil es kaum vorkam, in erreichbarer Nähe überhaupt eines zu finden, welches annährend in Frage kam. Ende Juni entschied ich mich dann, Wilma aus meinen Favoriten zu löschen. Du musst sie mal loslassen, sagte ich mir. Das ist doch Quatsch, so an einem Fahrzeug zu hängen, dass Du nicht haben kannst. Ich sah mir noch ein letzten Mal die Fotos an und tat es.

Vor knapp einer Woche, genauer gesagt letzten Dienstag, hatte ich wieder so einen Tag, wo ich sehr exzessiv auf Wohnmobilsuche gegangen bin. Mir ging das alles zu langsam und ich wollte die Sache voran bringen. Es gab immer Wohnmobile, die in Frage gekommen wären, aber ich konnte mich nie wirklich durchringen, Kontakt zu den Besitzern aufzunehmen. Keines der Fahrzeuge sprach mich irgendwie besonders an. Das eine hatte dies, was mir nicht gefiel, dem anderen fehlte das, was ich gerne gehabt hätte. So ging das Tag für Tag, Woche um Woche. Am Dienstag fragte ich mich, ob ich mich mit diesem Verhalten vielleicht bewusst selbst boykottiere, nur um diesem großen Schritt, der mit dem Kauf eines Wohnmobils einhergehen soll, zu vermeiden. Bin ich mir überhaupt noch sicher? Ist es wirklich das, was ich will? Um mir selbst zu beweisen, dass ich mir sicher bin, vereinbarte ich einen Besichtigungstermin für den nächsten Tag in der Nähe. Zwar wieder nur ein stinknormales Nullachtfünfzehn-Fahrzeug, aber es machte immerhin einen guten Eindruck. Außerdem war es letztendlich doch an mir, aus einem unscheinbaren Wohnmobil einen kleinen Traum zu zaubern, redete ich mir gut zu.

Zum Spaß suchte ich an diesem Tag auch mal wieder nach alten Hymermobilen, was ich seit fast einem Monat nicht mehr getan hatte. Ich erweiterte denn Suchradius auf 500 Kilometer, weil ich keine ernsten Absichten verfolgte, sondern einfach nur mal gucken wollte. Daraufhin sah ich einen kleinen, recht günstigen Hymer in Köln, an dem noch einiges gemacht hätte werden müssen, der aber auch nicht vollkommen übel war. Ich schrieb spontan den Besitzer an. Köln ist keine Weltreise und gucken kostet ja nichts, dachte ich mir. Und was ich auch dachte war: Das Wohnmobil ist zwar ganz niedlich, aber es ist eben nicht Wilma. Und dann sagte ich zu mir, nicht im stillen, sondern wirklich hörbar, weil ich das Bedürfnis hatte, diese Worte laut auzusprechen: Wenn Wilma wirklich zu Dir gehört, kommt sie wieder auf den Markt und wird zu Dir finden. Ich belächelte mich selbst, weil mir die Möglichkeit, Wilma könne nach so kurzer Zeit wieder zum Verkauf angeboten werden, einerseits zwar möglich, aber andererseits völlig absurd erschien.

Am Abend gab ich wiederholt dem Impuls nach, alte Hymermobile zu suchen. Plötzlich stieß ich auf eine neue Anzeige, die es am Vormittag noch nicht gegeben hatte – augenscheinlich ein richtiges Schmuckstück und das auch noch ganz in der Nähe. Neugierig begann ich den Anzeigentext zu lesen, bevor ich mir die weiteren Fotos ansah, und was ich dann las, traf mich wie ein Blitz: „Wir möchten unser erst kürzlich erworbenes Wohnmobil wieder verkaufen, da sich für uns eine andere Tür geöffnet hat und wir uns nun entscheiden mussten! Hier geht es um Wilma…“

Ungläubig las ich weiter. Ein Zufall? Ich sah mir die anderen Fotos an und obwohl ich sie schon längt wiedererkannt hatte, traute ich meinen eigenen Augen nicht. Ich hatte Gänsehaut, mir brach augenblicklich der Schweiß aus, meine Hände zitterten und mein Herz schlug, als wollte es mir aus der Brust springen. Zwei Mal setzte ich an, Kontakt aufzunehmen, löschte den Text aber wieder. Das konnte einfach nicht wahr sein! Soll ich, soll ich nicht? Was soll ich überhaupt schreiben? Beim dritten Anlauf, bekam ich es dann endlich hin. Ich erzählte einfach die ganze Geschichte, egal für wie bekloppt mich der Mensch auf der anderen Seite auch halten mochte, und fragte, ob es sich womöglich tatsächlich um „meine“ Wilma handeln könnte.

Den restlichen Abend war ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich konnte mir dann doch relativ schnell selbst glaubhaft machen, dass es wirklich die selbe Wilma ist, weil ich vergessen hatte, den Nachrichtenverlauf mit Wilmas alten Besitzern zu löschen und so doch noch auf die Fotos der damaligen Anzeige zugreifen konnte. Ich war unfassbar nervös und wünsche mir nichts sehnlicher, als eine kurze Bestätigung, dass Wilma noch da ist, obwohl ich mir im Grunde sicher war, dass es dieses Mal klappen würde. Wilma ist dein, sagte mir eine innere Stimme. Sie war es schon immer, dein Gefühl hat dich niemals betrogen, und jetzt ist es endlich so weit – Wilma wird dir gehören! Das wiederum machte mich noch nervöser, weil mir klar wurde, dass das der Startschuss für den Beginn eines neuen Lebensabschnitts sein wird. Wenn Wilma mir gehört, gibt es nur noch den Weg nach vorne, dann folgen auf die vielen Worte der letzten drei Monate die dazugehörigen Taten und alles, was sich zuvor noch als Idee in meinem Kopf befunden hat, wird Realität. So großartig, so beängstigend!

Ich sah minütlich auf mein Handy und fragte mich schon, wie ich überhaupt schlafen soll, wenn ich nicht zumindest erfahre, ob Wilma noch da ist. So sicher, wie ich mir der Sache war, so unsicher war ich mir aber auch immer wieder. Sehr spät am Abend antwortete mir dann doch noch Wilmas aktuelle Besitzerin, weil sie das Gefühl hatte, wie sie mir später sagte, dass sie mich so nicht in die Nacht gehen lassen kann, da sie sich denken konnte, wie es mir gerade geht.

Wir schrieben dann am nächsten Vormittag weiter und machten einen Besichtigungstermin für Samstag aus. Erst Samstag? Es war gerade mal Mittwoch. Die Zeit bis Samstag erschien mir wie eine unüberbrückbare Ewigkeit. Zwei Tage bekam ich kaum feste Nahrung runter, so sehr war ich durch den Wind. Immer wieder sah ich mir die Fotos vom Wilma an und war einfach nur fassungslos über die ganze Geschichte. Ich konnte einfach nicht glauben, dass das hier gerade alles wirklich passiert.

Samstagfrüh ging es dann los, eine Stunde Autofahrt standen zwischen Wilma und mir. Eine Stunde und ich würde sie wirklich sehen, nicht nur auf einem Foto im Internet, sondern ganz in echt. Ich war völlig überdreht. Anett kann ein Liedchen davon singen und war insgeheim sicher ganz froh, als wir heile den Zielort erreichten.

Und dann sah ich sie endlich von Angesicht zu Angesicht. Wilma stand rückwärts in der Einfahrt, ich völlig neben der Spur vor ihrer wunderschönen Front und kämpfte mit den Tränen. Ich sah sie einfach nur an und ich glaube, sie sah mich auch an. Glücklicherweise waren wir fast zwanzig Minuten zu früh dran und ich hatte noch Zeit, mich wieder zu sammeln.

Wilmas aktuelle Besitzer begrüßten uns freundlich. Wir beschnupperten uns kurz und dann ging es auch schon los, ich konnte mir Wilma auch von Innen ansehen. Hach, was soll ich sagen? Ich fand Wilma umwerfend! Deswegen warf ich mich auch als nächstes direkt zu Boden und sah sie mir von unten an. Top! Die Probefahrt war aufregend, hatte ich so ein großes Fahrzeug bisher nicht gefahren. Doch ich kam wunderbar mit Wilma zurecht und je länger wir unterwegs waren, desto besser klappte es zwischen uns beiden. Es hat wahnsinnigen Spaß gemacht, Wilma zu fahren! Das Gefühl ist mit einem normalen PKW einfach nicht zu vergleichen.

Ich wollte Wilma, nach wie vor! Wilmas Besitzer baten uns herein, wir machten es uns alle bei Wasser und Kaffee auf der Terrasse bequem und haben uns erstmal sehr lange unterhalten. Natürlich war ich neugierig, was das denn für eine Tür ist, die sich da geöffnet hat, sodass sie bereit sind, sich von Wilma wieder zu trennen. Wilma war auch ihr Traum und es war im Gespräch deutlich zu spüren, dass es ihnen sehr schwer fällt, sie wieder abzugeben. Sie erzählten, dass sie sich völlig ungeplant in ein Häuschen im Süden verliebt haben und mussten sich entscheiden – das Haus oder Wilma.

Und als ob die ganze Geschichte nicht schon wundervoll genug gewesen wäre, haben die Zwei noch eins drauf gesetzt, denn sie wollten von mir nur den Betrag, den sie vor einem Monat selbst für Wilma bezahlt haben und dieser Betrag lag deutlich unter dem von ihnen in der Anzeige angegeben Kaufpreis. Ich wäre ohne Weiteres bereit gewesen, den ausgeschriebenen Kaufpreis zu zahlen, doch die Beiden haben von sich aus gesagt, dass sie das nicht wollen, weil sie sich nicht an jemandem bereichern möchten, der ihnen sympathisch ist und bei dem sie das Gefühl haben, Wilma sei in guten Händen. Ist das nicht unglaublich? Und das trotz Tankfüllung und einiger neuer Bücher zum Thema Campen mit dem Wohnmobil, die sie extra bestellt hatten und nun mir dazugaben. Wahre Herzensmenschen! Natürlich hatte ich direkt wieder Tränen in den Augen, weil mich das alles so sehr berührte.

Ich ließ mir dann noch das eine oder andere erklären, wir erledigten den Papierkram, schraubten die Nummernschilder ab, damit ich Wilma auf meinen Namen anmelden kann, und nach zweieinhalb Stunden schafften wir dann endlich mal den Absprung. Bevor wir zum Auto gingen, verabschiedete ich mich noch schnell von Wilma und versprach ihr, bald wieder zu kommen.
Ich glaube, das war für alle gestern verdammt aufregend, wenn für mich wohl noch am aufregendsten. Anett musste uns nach Hause fahren, weil ich noch weniger in der Lage war, ein Auto unfallfrei zu steuern, als schon auf der Hinfahrt.

Ich bin ganz froh, dass heute Sonntag ist und ich nach dieser aufregenden Woche noch einen Tag durchpusten kann. Morgen werde ich mich dann um die nächsten Schritte kümmern. Währenddessen wartet Wilma sicher ungeduldig darauf, dass ich sie abhole, aber die paar Tage überstehen wir jetzt auch noch. Wilma hat es ja gut, wo sie jetzt ist. Soll sie sich ruhig noch ein wenig entspannen, bevor unser wildes Leben beginnt.

Mehr von Wilma und mir findet Du übrigens mittlerweile unter @wortwaerts auf Instagram oder bald auch auf www.wortwaertsmitwilma.de!

Sesselsurrealismus

Es ist schon wieder vierzehn Uhr und ich frage mich, wo die Stunden hin sind. Ich sitze in meinem Sessel und trage noch meine Schlafklamotten. Eine kurze und dünne Baumwollhose und mein Superman-Shirt. Was soll das auch für einen Sinn machen, eine kurze Hose gegen eine kurze Hose und ein Shirt gegen ein Shirt zu tauschen, nur weil man vorher drin gepennt hat? Wenn man sich Nachmittags für ein Schläfchen auf das Sofa haut, zieht man sich doch auch nicht erst um.

Würde ich mit meinen Schlafklamotten in den Supermarkt gehen, niemand würde es merken. Es würde übrigens auch niemand merken, wie witzig es ist, in einem Superman-Shirt einen Supermarkt zu betreten. Liegt aber vielleicht auch daran, weil Supermärkte im allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel nicht Supermarkt heißen, sondern bei ihren speziellen Eigennamen genannt werden. Wenn ich sage, ich gehe mit meinem Superman-Shirt in den Aldi, finde ich das auch null witzig.

Karl liegt auf dem Sofa und hört sich mein Gedankenwirrwarr an. Zwischendurch nickt er oder macht hm-hm. Manchmal nickt er auch und macht zeitgleich hm-hm. Oder zieht das hm in die Länge, etwa so: Hmmmmmm….
Das ist dann auch schon alles, und irgendwie reicht mir das auch gerade. Mehr brauche ich nicht. Einen von Karls oberschlauen Lehrervorträgen könnte ich heute sowieso nicht ertragen, und ich glaube, er weiß das.

Ich komme mir ein bisschen vor, wie beim Therapeuten, mit dem Unterschied, dass mein Therapeut liegt und ich sitze. Und gratis ist es auch, heute zumindest. Sonst kostet mich Karl nämlich hin und wieder ein paar meiner zuckenden Nerven, weil er ständig versucht, mich auf den Pfad der Erleuchtung zu führen. Heute allerdings nicht. Keine Schlaumeiereien, keine zuckenden Nerven.

Irgendwie fühle ich mich heute ziemlich verloren, aus Gründen. Ich fing schon vorgestern an, mich zu verlieren. Heute bin ich nur noch undeutlich zu erkennen, irgendwie wächsern, und wenn das in dem Tempo so weiter geht, wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen gar nicht mehr wahrnehmbar. Ich werde durchsichtig sein und es wird aussehen, als habe ich wie ein Chamäleon die Farbe des Sessels angenommen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob jemand nach etwas aussehen kann, wenn er nicht mehr zu sehen ist.

Karl hat sich schon lange nicht mehr gerührt und auch schon einige Minuten keines seiner lehrerhaften Hm-hms von sich gegeben. Ich frage mich, ob er mich noch sehen kann, traue mich aber nicht, mich irgendwie übermäßig bemerkbar zu machen, weil ich Angst habe, dass sich meine Befürchtungen bewahrheiten könnten.

»Mach dir keine Sorgen, Rocko. Wer bereit ist, dich zu sehen, wird dich sehen, auch wenn du dich selbst aus den Augen verlierst. So ist das übrigens bei allen Dingen auf dieser Welt. Der Mut zur Sehhilfe ist das Entscheidende.«

Karls plötzliche Worte erschrecken mich so sehr, dass mir fast die Kaffeetasse aus der Hand fällt. Dabei merke ich, dass sie längst leer ist. Ein wenig Milchschaum klebt eingetrocknet am Tassenrand. Ganz ohne Erleuchtung ging’s dann wohl doch nicht. Mein linkes Augenlid beginnt leicht zu zucken.

»Übrigens kann man dich auch bald riechen, wenn du so weiter machst. Da kannst du unsichtbar sein, wie du willst. Auch die Blinden werden dich finden.«, Karl setzt sich auf und schenkt mir ein breites Grinsen, bevor er aufsteht, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

»Du Witzbold!«, ich werfe ihm eine Schachtel Streichhölzer hinterher, weil gerade nichts anderes greifbar ist und ich ein Buch dann doch für zu gewagt halte. Ich bereue meinen Entschluss allerdings ziemlich schnell, weil der Inhalt der Schachtel sich im Flug quer durch das Zimmer verteilt, bevor die Schachtel selbst unter den Tisch segelt. Hätte ich mal ein Buch genommen. Karl öffnet sein Bier, prostet mir zu und lehnt sich lässig an die Küchenanrichte.

»Also ich hätte ja eines der Bücher da unten genommen,… schon aus rein physikalischen Gründen.«, sagt er und zeigt auf den stetig wachsenden Bücherstapel neben meinem Sessel.
Jetzt zuckt auch ein Teil meiner Unterlippe.

Kirchenglocken läuten, es ist schon sechs. Verrückt, wo sind denn die letzten vier Stunden schon wieder hin? Im Lokal unter meinem Fenster läuft Fussball. Deutschland spielt, es ist nicht zu überhören. Einigkeit und Recht und Freiheit.
Brot und Spiele, um das Offensichtliche vorübergehend unter den Stadionrasen zu kehren, wo die zuvor besungenen Werte schon lange vergraben liegen. Bemerkenswert, wie gut dieses Prinzip schon seit Jahrhunderten immer wieder funktioniert. Vielleicht ist ja wirklich nicht die Unsichtbarkeit das Problem.

Apropos Brot und Spiele: Langsam kriege ich Hunger.
Und pinkeln muss ich auch.

Tor für Deutschland.

Wem gehört dieses Kaninchen in meinem Vorgarten? Und was ist eigentlich mit dem Mond los?

Fragen über Fragen. Glücklicherweise habe ich gerade ganz viel Zeit. Oder vielmehr, ich habe mir diese Zeit einfach genommen, weil sie mir nunmal gehört, meine Zeit.

Eine Zeit der Ruhe in einer Zeit des Sturmes.

Mein persönlicher Sturm ist glücklicherweise längst vorüber.
Für mich hat sich die peitschende und lebensbedrohliche See der letzten anderthalb Jahre zu einem friedvollen Stillgewässer geglättet. Das war ein unglaublicher Ritt, sage ich euch. Und selbst, wenn ich euch im Einzelnen davon erzählen wollen würde, ich könnte es mit Worten gar nicht annähernd wieder geben. Hatte ein bißchen was von Tod und Wiedergeburt. Phönix aus der Asche und so. Dieser ganze Scheiß eben. Mit dem Unterschied, dass es dieses Mal keine Jahre gedauert hat. Dieses Mal waren es nur wenige Monate Umweg auf dem Weg zu mir selbst. Irgendwann muss sich ja auch mal ein Fortschritt in der Entwicklung bemerkbar machen. Trotzdem habe ich mir danach erstmal an der Kopf gefasst und mich gefragt, wie oft ich mich denn noch in so eine Situation bringen muss, damit ich dauerhaft daraus lerne. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich nur noch um eine kleine Auffrischung handelte und ich mit dem Thema jetzt ein für alle Mal durch bin.

Naja, jedenfalls ist bei mir jetzt erstmal volles Pfund Selbstfindungsmodus angesagt. Wurde nach über vierzig Jahren Irrungen und Wirrungen ja auch mal Zeit. Thema: Wer bin ich wirklich und wo geht meine Reise hin? Eine Ahnung davon habe ich zwar schon, aber irgendwie fehlt es dem Bild noch an der nötigen Schärfe, um eine klare Aussage machen zu können. Da müssen wir uns einfach noch ein wenig gedulden. Die grobe Reiseroute steht zumindest schon mal fest und das Fortbewegungsmittel auch. Manchmal fällt der Kopf dem Bauch noch ins Wort, aber das passiert zum Glück immer seltener. Es stellt sich nicht mehr die Frage ‚ob und wie‘, sondern nur noch die Frage ‚wann‘.

Wenn es darum geht, verknotete Lichterketten in Ordnung zu bringen, bin ich der geduldigste Mensch der Welt. Wenn es um mich und mein verknotetes Leben geht, eher nicht. Dann will ich alles am liebsten immer sofort. Wenn möglich, am besten schon gestern. Und so rutsche ich aufgeregt in meinem knallgelben Sessel hin und her – manchmal aus Respekt vor der ganzen Sache, manchmal vor lauter Ungeduld, weil ich es kaum noch erwarten kann, und manchmal auch einfach nur, weil mir der Arsch vom Sitzen wehtut. Nein, sonst habe ich tatsächlich gerade keine Probleme. Gönnt mir das ruhig mal!

Würde ich irgendwas anders machen, wenn ich die Gelegenheit hätte? Nein, das würde ich nicht. Vielleicht würde ich allenfalls in der Zeit zurück reisen, um mich selbst zu gegebenem Anlass in die Arme zu nehmen und mir zu sagen, dass ich keine Angst haben muss und alles gut werden wird, ganz egal, wie dunkel die Zeiten gerade erscheinen. Missen möchte ich diese dunklen Zeiten jedoch nicht, denn in diesen Phasen meines Lebens habe ich unfassbar viel gelernt, habe an Stärke und an Dankbarkeit gewonnen.

Das Leben ist momentan wirklich aufregend und unglaublich spannend, wenn man es schafft, zwischen den Zeilen des Weltgeschehens zu lesen, was nicht so einfach ist, das gebe ich zu. Auch ich habe eine Weile gebraucht, bis ich in der Lage war, meinen Blick zu fokussieren und aus der Angst herauszutreten. Alles ist im Umbruch, im Aufbruch, im Erwachen und in der Neuentstehung, und ich bin mittlerweile verdammt glücklich und mehr als dankbar, dass ich dabei sein darf. Ein paar holprige und chaotische Tage des Loslassens stehen uns noch bevor, um es mal nett auszudrücken, aber das gehört nunmal dazu – im Kleinen, wie im Großen. Eine Geburt ist eben kein Spaziergang, sondern schweißtreibend, schmerzhaft und blutig, um es den Tatsachen entsprechender auszudrücken.

Und bis es soweit ist, das Eine, wie das Andere, warte ich ab, trinke Tee, zur Zeit mit Vorliebe Kamillentee (natürlich nicht den fiesen Beuteltee), mache schöne Dinge, umgebe mich mit lieben Menschen und genieße vertrauensvoll, mit stetig wachsender Zuversicht, Aufregung und auch Verwunderung, das teils unterirdische und teils tiefgreifende „Unterhaltungsprogramm“, während ich parallel meine Träume nicht mehr nur träume, sondern sie auch endlich in die Hand nehme und an mein Herz drücke.

Quantentröpfchen für Quantentröpfen, bis zur großen Flut.