Zerebrale Flatulenz im Stroboschein

Ich habe jetzt jede Nacht Disco in meinem Zimmer. Am Gebäude schräg gegenüber ist eine Lampe kaputt. Sobald es dämmert, geht sie an und verbreitet ihren grellen, stroboskopartigen Zauber.

An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. …

Zum irre werden. Die ganze Nacht. Mein Fenster hat weder ein Rollo, noch eine Gardine. Würde auch nichts nutzen, da ich es bevorzuge bei gekipptem Fenster zu schlafen. Der Spaß geht jetzt schon über mehrere Nächte und ich wünsche mir gerade ein Luftgewehr, um dem heute Abend bequem und unauffällig ein Ende machen zu können. Letzte Nacht habe ich mit verbunden Augen geschlafen. Als ob es nicht schon ausreichen würde, dass ich wegen dieser kack Influenza und dem damit verbundenen Husten zur Zeit nur im Sitzen schlafen kann, muss ich mir jetzt auch noch die Augen verbinden. Geht’s noch? Entwürdigender ist nur noch der große Schaumstoffring auf den ich meinen hübschen Hintern mittlerweile bette, weil er vom Sitzen weh tut. Der Arsch ist sozusagen im Arsch. Tusch!

Um mich aus der Selbstentwürdigungsnummer mal wieder zu befreien: Seit gestern bin ich übrigens bei Twitter (Update April 2021: Twitter-Account mittlerweile wieder gelöscht) und ich weiß noch nicht so genau, wie ich das finden soll. Lebowski, der alte Nerd, hat mich da reingequatscht. Vonwegen mit der Zeit gehen und informiert bleiben und mehr Leser erreichen und mal aufgeschlossen sein für Neues und blablabla, so ein Zeug eben. Na gut, dachte ich mir, ich habe ja gerade sowieso nicht viel zu tun, probiere ich dieses Twitter eben mal aus. Keine Ahnung, ob das von Dauer sein wird. Noch kann ich kein Urteil abgeben, ob mir das gefällt oder nicht.

Übrigens bin ich nicht so verstaubt, wie es manchmal den Eindruck macht. Ich bin stinkfaul und habe keine Lust auf zusätzliche Verpflichtungen. „Die Arbeit ist etwas Unnatürliches. Die Faulheit allein ist göttlich.“, sagte einst Anatole France. Kluger Mann. Seine weisen Worte nehme ich mir stets sehr zu Herzen.

Irgendwie war das hier auch ganz anders geplant. Dieser Blog entstand, als ich einen virtuellen Ort brauchte, an dem ich heimlich meine Wunden lecken, mich im Selbstmitleid suhlen und meinen persönlichen Wahnsinn ausleben konnte. Jetzt ist von alldem nur noch der persönliche Wahnsinn übrig. Plus Lebowski, der auf meine Bitte gelegentlich noch seinen eigenen Irrsinn einkreuzt. Keine Ahnung, wo die Reise hingeht. Am Besten lehne ich mich zurück und lasse das Boot einfach mal treiben. Irgendwo wird es schon ankommen.

Zu der kaputten Lampe am Gebäude schräg gegenüber ist mir immer noch keine befriedigend Lösung eingefallen. Irgendwie disqualifiziert sich jede Idee direkt damit, dass ich mir erst eine Hose anziehen muss. Luftgewehr, ich sage es ja. Das wäre einfach die bequemste Lösung. Habe ich aber immer noch nicht.

Vielleicht mache ich heute Nacht auch einfach richtig laute Musik an und tanze nackt bei offenem Fenster im Strobolicht bis irgendein Nachbar die Polizei anruft. Dann kann ich die Polizisten mit einer Leiter auf die andere Straßenseite zur Lampe schicken. Um denen die Tür aufzumachen muss ich mir allerdings auch wieder eine Hose anziehen, sonst nehmen die mich gleich mit. Verdammte Hose! Alles scheitert immer an dieser verdammten Hose!

Ich mache mir jetzt erstmal einen Tee.

Influenza. Hätte ich eine Tochter, das wäre ihr Name.

Zum Glück für die Menschheit und zum Glück für Influenza, habe ich wissentlich keine Nachkommen in die Welt gesetzt, abgesehen von Lebowski, meinem Nachkommen im Geiste. Ich würde die aktuelle Menschheit und mich auch ungerne auf meinen Nachwuchs loslassen, wenn dieser ehrenhafte Grund auch nicht ausschlaggebend für meine Kinderlosigkeit ist, sondern purer Egoismus. Ich lebe lieber so uneingeschränkt, wie möglich und da sind meine Arbeit und ich mir selbst schon Schranke genug. Da brauche ich nicht noch Kinder. Dem Himmel sei Dank habe ich ich eine Frau, die diesen Egoismus mit mir teilt und an Fortpflanzung nie interessiert war.

Ich komme da übrigens drauf, weil mich tatsächlich eine Influenza heimgesucht hat und Lebowski und ich uns früher immer total bescheuerte Kindernamen ausgedacht haben. Influenza war allerdings nicht dabei. Alter, ich schreib den mal mit auf die Liste ok?

Seit letztem Donnerstag bin ich mittelmäßig hinüber, wobei es mir heute schon deutlich besser geht, und seit gestern weiß ich, dass ich eine Influenza habe, wenn auch eine abgeschwächte Version ohne Fieber und Schüttelfrost. Eine Urlaubsinfluenza quasi. Ausreichend unangenehm, um zu Hause zu bleiben, aber noch ausreichend angenehm, um auch etwas davon mitzubekommen. Für viel mehr als Bett und mediale Berieselung hat es aber auch nicht gereicht. Seit gestern bin ich wieder etwas aktiver, wenn es auch noch nicht fürs Bäumeausreißen oder Bergeversetzen reicht. Die Schmerzen, die ich mittlerweile beim Husten habe, sind echt nicht von schlechten Eltern. Irgendein Muskel hat da wohl was abgekriegt.

Lebowski hat es übrigens auch erwischt und wir streiten uns jetzt regelmäßig, wer es von wem hat. Ich denke allerdings, dass wir uns das Karneval eingefangen haben. Kakoschke und Karneval? Richtig, passt nicht. Karneval ist das erbärmlichste Fest in unserem Kulturkreis, das es gibt. Kein Fest, nichtmal Weihnachten, wurde so entwürdigend seinem Ursprung entrissen, wie Karneval. Deswegen habe ich diesen Kelch die letzten Jahre auch mit Freuden an mir vorüberziehen lassen. Tja, und dieses Jahr, Gott weiß warum, hatten wir zeitgleich Lust, einfach mal wieder am üblichen Tag in die übliche Kneipe zu gehen und zu schauen, wer von unseren ganzen alten Freunden, die wir schon lange nicht mehr gesehen haben, sich dort noch einfinden. Waren natürlich fast alle da, fast alle und Influenza, die alte Schlampe, da bin ich mir sicher.

Wo gedeiht so eine Seuche zu dieser Jahreszeit denn besser, als in einer feuchtwarmen, vollgestopften Kneipe, wo sich irgendwann alle furchtbar lieb haben, um es mal dezent auszudrücken, und mit ihren ungewaschenen Fingern um sich tatschen, während sie ihre verschwitzen Leiber teils gewollt, teils ungewollt aneinanderreiben, einem bei dem Versuch gegen die schlechteste Musikrichtung des ganzen Universums anzukommunizieren, regelrecht ins Gesicht kriechen und dabei gefühlt mehrere Liter Speichel zukommen lassen. Vom Zustand der sanitären Anlagen an so einem Abend wollen wir gar nicht erst sprechen. Wäre ich eine Influenza, das wäre mein absoluter Garten Eden. Da musst du dich als Influenza einfach nur mit einem Getränk lässig in die Ecke stellen und zusehen, wie all diese irrsinnigen Menschen deine Arbeit machen.

Lebowski lässt übrigens grüßen. Den hat es etwas schlimmer erwischt. Sein Hirn sei überwiegend Matsch und seine Gliederschmerzen erstrecken sich bis in die Fingerspitzen. Eine gesunde Portion Hirnmatsch sei ja immer mit von der Partie, sagt er, aber das mit den Fingern sei ernsthaft hinderlich beim Schreiben. Ich denke ja, er will mit seiner Influenza einfach nur ungestört alleine sein, der alte Schlingel.

Aber jetzt Spaß bei Seite. Karneval ist längst vorbei und kommt hoffentlich nie wieder. Ich habe zwei meiner Grundsätze verraten, die ich selbst vor Urzeiten auf dem Berg Sinai, während einer stürmischen Gewitternacht, nass bis auf die Knochen, im Schweiße meines Angesichts, nur mit meinen Fingernägeln in Stein geschabt habe.

Du sollst keine Karnevalsmusik mitsingen.
Du sollst dich nicht in eine Polonäse einreihen.

Beides habe ich gebrochen und letztendlich meiner Selbstachtung die Beine, denn irgendwann sind mir wohl die Löcher aus dem Käse geflogen und ich habe mich nicht nur in eine Polonäse eingereiht, sondern: EINE SCHEIßPOLONÄSE ANGEFANGEN! Dafür hätte ich eigentlich eine Influenza auf Lebenszeit verdient und gehe deswegen jetzt auch wieder brav in mein nächtlich durchgeschwitztes Büßerbettchen, um mir irgendeinen schlechten Film anzusehen. Vielleicht irgendwas mit Zombieapokalypse oder so. Ja, Zombieapokalypse ist gut. Das passt zur Influenza und ist ein bißchen wie das letzte Karneval auf diesem Planeten. Nur lustiger, weniger eklig und mit besserer Musik.

Konfetti.

19 – Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Mascha Kaleko

That’s the way, aha, aha…

Gut, dann will ich mein Werk mal beginnen und die Leiden des jungen Kakoschke verfassen. Er hat es ja nicht anders gewollt und ihr und ich scheinbar auch nicht, denn sonst wären wir ja alle nicht hier. Trara, tätä und so weiter. Ich bin mir zwar noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich das hier so wirklich will, denn vermutlich komme ich dabei auch nicht sonderlich glanzvoll weg. Andererseits habe ich den Anfang bereits gemacht und werde mich jetzt auch nicht drücken. Also los…

Rocko Kakoschke wurde in den siebziger Jahren in einem Dorf geboren, welches so klein war, dass es weder ein eigenes Ortsschild, noch eine eigene Kirche besaß. Dafür gab eine Kneipe, das Querschlag. Hier traf sich alles, was weder Rang noch Namen hatte – also fast jeder. Das Querschlag war sozusagen das Herz des Ortes, wenn es dort auch nicht immer herzlich zuging.

Es gab drei Nachnamen, die den Ort maßgeblich dominierten, was im Laufe mehrere Generationen dazu führte, dass es an Sonderlingen nicht mangelte, wenn ihr versteht, was ich meine. Die Gegend war damals noch bekannt für die Förderung von Steinkohle und an manchen Tagen, so schien es zumindest, fand mehr Leben unter Tage statt, als über der Erde. Dann gehörte das Dorf den Frauen und den Alten, aber vor allem uns Kindern.

Da Rocko auch nicht gerade der Norm entsprach, fiel er mir anfangs nicht auf. Unsere Familie war ebenso zugezogen, wie seine, aber nicht diese Gemeinsamkeit, sondern die Zuneigung zu der pummeligen Greta mit dem leichten Silberblick brachte uns zusammen, nachdem sie uns anfangs gegeneinander aufbrachte, weil wir uns nicht einig wurden, wem von uns sie die schönen Augen machte. Irgendwie sah es immer ein wenig so aus, als würde sie links an einem vorbeisehen, wenn sie mit einem sprach.

Die pummelige Greta mit dem Silberblick war zwei Klassen über uns und uns, betreffend des körperlichen und geistigen Wachstums, deutlich überlegen. Dennoch, jeder von uns beiden war überzeugt davon, der Auserwählte zu sein, derjenige, der irgendwann ran durfte, wenn wir uns auch noch nicht ganz im Klaren darüber waren, was Randürfen im Einzelnen beinhaltete. Der große Johannes mit dem Hinkefuß hatte da so gewisse Zeitschriften von seinem Vater… sagen wir mal… geliehen. Sein Vater war übrigens Bauer Brahms und neben dem Bürgermeister Uhlig die wohlhabendste Person im Ort. Naja, jedenfalls waren diese Zeitschriften sehr aufschlußreich, aber auch ebenso verwirrend. Meine Vorbereitungen fanden meistens vor dem Schlafengehen unter der Bettdecke statt, manchmal auch, wenn ich schon schlief, was mich noch mehr verwirrte, weil ich keinen Einfluss darauf hatte und nicht von der pummeligen Greta träumte, sondern von Fräulein Peters, unserer Lehrerin für den heimatkundlichen Deutschunterricht.

Rocko dagegen schien sich keine Platte zu machen. „Der Bessere möge gewinnen!“, sagte er. Wir rotzten uns in die Hand und schlugen ein, jeder für sich überzeugt, als Sieger aus diesem Duell hervorzugehen, platzend vor mit Überlegenheit überspielter Unsicherheit und einem Hauch von Mitleid für sein Gegenüber. Wir legten uns mächtig ins Zeug, um der pummeligen Greta zu gefallen, aber relativ bald nahm das Ganze ein dramatisches Ende. Wir beobachteten Greta dabei, wie sie heimlich, dachte sie zumindest, hinter dem Kuhstall von Bauer Brahms, am kleinen Johannes vom großen Johannes mit dem Hinkefuß herumleckte. Das Bild und das schmatzende Geräusch verfolgten mich noch lange in meinen Träumen, was den selben Effekt hatte, wie von Fräulein Peters zu träumen, allerdings weitaus verstörender war.

Das war der Beginn unserer bis heute andauernden Freundschaft. Wir fühlten uns von der pummeligen Greta mit dem Silberblick betrogen und ertranken unseren ersten Liebeskummer gemeinsam in einem verstaubten Einmachglas mit vergorenen Pflaumen, die Rocko aus dem Keller des leerstehenden und verfallenen Nachbarhauses gerettet hatte. Wir verkrochen uns damit im halb zugewachsenen Schuppen selbigen Hauses, teilten unseren Schatz wie Brüder, wichsten danach um die Wette, bis der Wundschmerz einsetzte und stellten uns dabei vor, wie Greta mit uns machte, was sie mit dem großen Johannes getan hatte. Wir fühlten uns verdammt männlich. Den gewaltigen Dünnschiss und die Bauchkrämpfe noch am selben Abend wird wohl keiner von uns beiden jemals vergessen. Da war es dann schlagartig vorbei mit der Männlichkeit.

Die Rosette brannte, der Pimmel beim Pinkeln auch, und wir haben geheult, wie die kleinen Kinder, an denen wir wesentlich näher dran waren, als an den Männern für die wir uns wenige Stunden zuvor noch gehalten hatten.

Das letzte Königkind

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Ich bin das letzte Königskind einer längst vergangenen Zeit. Meine Reise dauert ewig, denn der Weg ist ziemlich weit.

Wort zum Sonntag

Der Sonntag ist für mich der schönste Tag der Woche. Auch wenn er im Gegensatz zum Samstag den großen Nachteil hat, dass ihm bis zum nächsten Wochenende in der Regel kein weiterer freier Tag mehr folgt, ist und bleibt er dennoch mein absoluter Lieblingstag.

Habt Ihr nicht auch das Gefühl, dass sich die Welt an Sonntagen langsamer dreht? Es ist ruhiger draußen, es fahren weniger Autos, weniger Menschen sind unterwegs, die Geschäfte sind geschlossen, alles fühlt sich ein wenig an, wie in Watte gepackt. Zumindest empfinde ich das immer so und es gefällt mir. Ich mag diese Ruhe vor meiner Haustür und diese Ruhe in mir drin, die ich einfach nur an einem Sonntag haben kann.

Manchmal schaffen wir es, auch den Samstag zum Sonntag zu machen, aber meist ist am Samstag doch immer irgendetwas los. Es kommt Besuch, wir sind Besuch, es muss doch noch etwas eingekauft werden, auch wenn wir versuchen, das unter der Woche zu erledigen, wir gehen zum Yoga, weil wir am Freitagnachmittag den Hintern nicht mehr hoch gekriegt haben, ich gehe zum Sport, es ist irgendwo eine reizvolle Veranstaltung oder die Wohnung muss schlicht und ergreifend einfach mal wieder grundsaniert werden.

Der Sonntag dagegen ist meistens ein Alles-kann-nichts-muss-Tag. Ist das Wetter regnerisch, ist das Sofa und der Fernseher der beste Freund. Vielleicht wird eine Maschine Wäsche gewaschen, vielleicht ein Brot gebacken, vielleicht etwas gekocht, vielleicht wird aber auch gar nichts Produktives getan und es macht jeder von uns, wonach ihm gerade ist.

Heute war das Wetter zum Beispiel ein Traum. Es war knackekalt und die Sonne schien, was mich dazu motiviert hat, nach einem dreiviertel Jahr endlich mal wieder Laufen zu gehen. Meine Frau hat derweil Brot gebacken und Wäsche gewaschen. Wer von uns beiden da jetzt besser weggekommen ist, liegt definitiv im Auge des Betrachters. Ich war froh, den Arsch hochzubekommen, meine Frau vielleicht froh bei der Kälte nicht durch den Schloßpark rennen zu müssen. Mit dem Brotbacken war sie einfach mal dran und vor der Wäsche drücke ich mich ganz gerne, das gebe ich zu.

Am frühen Nachmittag waren wir dann noch ein gute Stunde spazieren, haben uns mal eine Ecke unseres Stadtteils angesehen, den wir noch gar nicht kannten und haben dabei einen neuen Weg entdeckt, der für zukünftige Sonntagsspaziergänge sicher öfters mal begangen wird. Immer nur durch den nahegelegenen Schloßpark zu laufen, ist auf die Dauer auch langweilig, zumal da an Sonntagen ein übermäßiges Begängnis herrscht, was unserem Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit eher weniger entspricht.

Nach dem Spaziergang zu Hause angekommen, habe ich mir einen weißen Glühwein mit einem ordentlichen Schuß Rum gegönnt und mich damit in mein Zimmer verdrückt. Ja, ich habe ein eigenes Zimmer in unserem kleinen, neuen Häuschen. Neben Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Ankleidezimmer und Büro, wobei das kein Zimmer ist, sondern die Zwischenetage, fungiert ein weiteres Zimmer als Gästezimmer und mein Kreativzimmer. Hier ziehe ich mich zurück, wenn ich mal alleine sein möchte, wenn wir uns einfach mal aus dem Weg gehen müssen, wenn ich irgendetwas ausbrüte oder meine Frau mal wieder eine Phase hat, in der sie schnarcht, dass sich die Bodendielen biegen, was sie übrigens auch gerade unten auf dem Sofa tut, ich kann es hören.

Jeder, der eine langjährige Beziehung führt weiß, du kannst dich noch so sehr lieben, du gehst dir trotzdem irgendwann auf den Sack. Nun sind wir auch beide Personen, die gerne mal alleine sind, was nichts mit mangelnder Liebe zu tun hat, sondern mit Individualität. Und diese können wir in unserem neuen Haus wunderbar ausleben, im Gegensatz zur vorherigen Zwei-Zimmerwohnung, was unserer Beziehung, meiner Meinung nach, auch ganz gut tut.

In meinem Zimmer befindet sich ein Palettenbett. Meine ganze Jugend wollte ich immer ein Palettenbett haben, aber es kam nie dazu. Diesen Traum wollte und konnte ich hier verwirklichen. Eine Staffelei mit Maluntensielien, sowie eine Gitarre, ein E-Piano und diverse Dinge, die mir wichtig sind, befinden sich auch dort. Ich kann in diesem Zimmer machen, was ich will und es gestalten wie ich will. Hier hat alles Platz, was mir gefällt, aber meine Frau nur schwer ertragen kann, zum Beispiel die asiatische Winkekatze, Mad-Max-Möhre oder dieses Gemälde, ein Überbleibsel aus Kindertagen.

Irgendwie habe ich in Beziehung Individualität ein Defizit, welches sich aus verschiedenen Abschnitten meines Lebens zusammensetzt. In meinem Zimmer kann ich dieses Defizit kompensieren und ich bin meiner Frau, die manchmal bedauert kein eigenes Zimmer zu haben, sehr dankbar, dass sie mir das lässt. Wenn wir mal ehrlich sind: Wenn ich in meinem Zimmer bin, gehört ihr das gesamte Haus. Mein schlechtes Gewissen hält sich diesbezüglich in Grenzen. Dafür bleibt ihr ja auch die Winkekatze erspart.

Der heutige Sonntag war alles in allem ein voller Erfolg für mich und genau so, wie ein Sonntag meiner Meinung nach sein muss. Es war sonnig, ich habe den Tag sinnvoll genutzt, indem ich mich sportlich betätigt habe, wir zusammen einen Spaziergang gemacht und dazu noch unsere Ortskenntnis erweitert haben, ich für mich sein konnte, etwas geschrieben habe und das Abendessen bereits fertig auf uns wartet, weil gestern genug übrig geblieben ist, um heute nicht kochen zu müssen. Und obendrauf gab es einen weißen Glühwein mit einem ordentlichen Schuß Rum. Da bleibt eigentlich kaum ein Wunsch offen,… abgesehen von dem Wunsch, dass heute erst Samstag ist.

Mein Name ist Lebowski, ich schreibe jetzt hier

Und wie ich das so schreibe, muss ich an Loriot und den Film Pappa ante Portas denken. »Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein.« Ein Klassiker und immer wieder schön. Kennt von den jungen Leuten heutzutage vermutlich kaum noch jemand, befürchte ich. Früher hätte ich dazu Alte-Leute-Humor gesagt und nicht darüber lachen können. Heute finde ich es ausgesprochen amüsant. Das gibt mir echt zu denken.

»Alter, …«, Rocko sitzt da, mit leicht geöffnetem Mund und einem starren Gesichtsausdruck. Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt atmet. Wenn man ihn nicht kennt, würde man ihn für debil halten. Oder erwarten, dass er kurz vor einem Schlaganfall steht. Ich allerdings kenne ihn und das schon verdammt lange. Er lässt eine übermäßig lange Pause, um dem, was noch kommt, das nötige Gewicht zu verleihen. Und ich weiß, dass er mal wieder eine total verrückte Idee hat, die uns vermutlich auf irgendeine Art und Weise in die Scheiße reiten wird.

Wir sitzen im Schabulski und trinken Bier. Ich schaue auf die Uhr und gähne demonstrativ gelangweilt, obwohl es noch früh ist und ich eben erst gekommen bin. Davon abgesehen schaue ich etwas streng, weil ich es hasse, mit Alter angeredet zu werden. Schon schlimm genug, dass meine Schüler damit jeden zweiten Satz einleiten.

Nach einer gefühlten Minute, ich schätze es waren nichtmal zehn Sekunden, endet Rockos dramaturgische Pause. »… du solltest auch mal was schreiben.«

»Nenn mich nicht Alter. Das ist so… so… prollig. Außerdem klingt das aus dem Mund von so’nem alten Sack wie dir erst recht vollkommen daneben.«

»Duuu bist ein alter Sack, Karl, ein spießiger alter Sack. Wann hast du eigentlich aufgehört, durch die Unterbuchse zu atmen?«
»Nachdem ich gemerkt habe, dass ich durch Nase und Mund frischere Luft kriege, du Ochse.«

Ich gucke weiter streng, den Lehrerblick habe ich drauf, halte aber nicht lange durch, weil Rocko den tödlich Getroffenen gibt, seine Hände mit schmerzerfülltem Gesichtsausdruck auf eine imaginäre Schußverletzung in der Brust drückt und dabei röchelnd vom Barhocker rutscht. Filmreif.

Ich schaue mich um und bin erleichtert, dass das Schabulski noch so leer ist und abgesehen von Manni, der hinter der Theke gerade ein Weizenglas poliert, niemand etwas mitbekommen hat. Und Manni hat schon so viel gesehen, dass er sich fast über nichts mehr wundert, schon gar nicht über Rocko.

So sehr ich mich bemühe, es nicht zu tun, ich muss lachen. Ich kann nicht fassen, dass er mich mit dieser bescheuerten Nummer gekriegt hat. Rocko klettert wieder auf den Hocker, haut mit der flachen Hand triumphal auf die Theke und bestellt bei Manni zufrieden grinsend zwei Klare. Ich verspüre eine tiefe Zuneigung, aber auch den bohrenden Drang ihm eine reinzuhauen.

»Bei mir auf der Seite solltest du was schreiben.«
Rocko prostet mir zu.

»Schreiben, ich, auf deiner Seite? Ffffffffff… weiß nich’… und was überhaupt?«
Ich kippe den Schnaps in einem runter und mir wird angenehm warm.

»Unseren ganzen Scheiß, den wir so erlebt haben, zum Beispiel. Die ganze verrückte Zeit. Aus deiner Perspektive. Oder was nettes über Menschen. Sei der gute Bulle. Sei mein philanthropisches Gegengewicht.«

Ich habe Schlimmeres erwartet. Das klingt tatsächlich, als könne es Spaß machen und ungefährlich sein.

»Weißt Du, ich glaube, nein, ich weiß, dass das richtig gut wird. Deine Kurzgeschichten in Literatur waren früher immer der Knaller. Du hättest nie aufhören sollen zu schreiben. Ich hab immer gedacht, aus dir würde mal Schriftsteller werden.«

Das dachte ich damals auch, aber es kam einfach zu viel dazwischen und irgendwann passten sich die Träume dem Leben an, statt andersherum, wie es eigentlich sein sollte.

»Alter, komm schon, sag ja.«

Mir gefällt die Idee, hatte ich doch unlängst darüber nachgedacht, mal wieder etwas auf’s Papier zu bringen, zu gucken, ob ich es noch kann. Dann eben so. Warum nicht. Ich bin kurz versucht, ihn noch etwas betteln zu lassen, weil er mich schon wieder angealtert hat und weil mir seine Bemühungen auch irgendwie gefallen, beschließe dann aber, mir die Energie zu sparen. Die werde ich morgen in der Schule nämlich noch brauchen. Ausflug ins Berufsbildungszentrum. Das wird wieder ein Spaß. Ich bestelle noch zwei Schnäpse und verspüre den drängenden Wunsch, mich so richtig zu besaufen und morgen einfach krank zu machen. Rocko würde es tun.

»Ok, ich kann’s ja mal versuchen.«

»Geil, Alter! Das feiern wir!«

Während Rocko noch eine Runde bestellt, bete ich innerlich, dass aus dieser kleinen Mücke nicht doch irgendwann ein ausgewachsener Elefant wird. Und wenn, dann hoffentlich nur ein zahmer.

Mit gelben Säcken meine ich keine Chinesen

Seit zehn Jahren habe ich jetzt schon ein Profil auf der wohl bekanntesten aller Onlineseuchen des Worldwidewebs und weil ich eine Geisel meiner Internetsucht bin, kann ich es auch nicht lassen, mich dort und in einer Vielzahl anderer sozialer Netzwerke herumzutreiben, und das, obwohl mich die Mentalität der meisten Menschen dort regelmäßig abfuckt.

Es gibt doch für jede Stadt und jedes noch so unbekannte Kaff diese „Du bist…, wenn…“-Gruppen. Kennt Ihr sicher. Und wenn nicht, entgeht Euch, neben wenigen nützlichen Informationen, wie zum Beispiel dem Suchen und Finden diverser Haustiere, nichts. Es sei denn, Ihr steht auf Verschwendung von Lebenszeit und eine schnell chronisch werdende Form von ausgewachsener Hirnschmelze.

Der Stadtteil, in dem ich wohne, nennen wir ihn hier mal liebevoll das Dorf, hat auch so eine Gruppe. Und ja, ich bin da drin. Vermutlich, weil ich eine sadomasochistische Veranlagung habe und es unbewusst mag, wenn mein Hirn schmilzt. Anders kann ich mir das nicht erklären.

Und gestern war es dann wieder soweit. Die Uschi (Name von der Redaktion geändert) sorgt sich um das Wohl der Allgemeinheit, weil ein Mann schon zwei Wochen auf einem Parkplatz in seinem PKW, genauer gesagt einem Transit, kampiert und der laut Uschi seinen Müll in die Gegend schmeißt und in den nahegelegenen Park pinkelt. Der Mann, nicht der Transit.

Ich muss mir unweigerlich vorstellen, wie die Uschi versucht, sich im Park hinter kahlen Büschen und Bäumen zu verstecken, um den Mann dabei zu ertappen, wie er sein Geschlechtsteil aus der Hose in die winterliche Kälte zerrt, weil er verständlicherweise nicht in sein Auto urinieren möchte.

Uschis weltbewegende Informationen bleiben natürlich nicht lange ungelesen, was die Uschi ja auch gar nicht will, und es dauerte keine dreißig Sekunden bis jemand schreibt, was ich denke, nämlich, wo zum Henker das Problem sei?

Uschi wiederholt das bereits Geschriebene fast eins zu eins und man kann ihr Unverständnis über das Unverständnis förmlich schmecken. Dass der seinen Müll da entsorgt und in den Park pinkelt, findet die Uschi eben nicht gut. Das Wohnen im PKW auch nicht. „Da muss mal das Ordnungsamt vorbei!“, meint Uschi.

Wenn was im Argen sei, wäre das Ordnungsamt schon längst aktiv geworden, meint eines der Oppositionsmitglieder. Der Müll sei nämlich nicht von ihm, der sei von den Jugendlichen oder so, die sich da so gelegentlich herumtreiben. Daraufhin melden sich Hundebesitzer zu Wort und teilen mit, zu welchen Uhrzeiten sie ihn beim Gassigehen dort haben stehen sehen und wann nicht. Er sei ein Netter und er tue doch niemandem etwas, indem er in seinem Auto wohne, schreibt jemand, der offensichtlich bereits persönlichen Kontakt hatte.

„Noch nicht!“, denkt die Uschi bestimmt, schreibt es aber nicht. Doch ich kann es fühlen, dass sie das denkt. Wer auf einem Parkplatz in seinem Auto lebt, frisst nämlich kleine Kinder und wärmt sich mit deren Großmüttern den nackten Hintern. Ich kann quasi denken, wie die Uschi denkt. Wie so ein Profiler in amerikanischen Psychothrillern.

Aber weiter im Stück: Als nächstes wird vom größten Dorfquerulanten aus der Gruppe relativ neutral angemerkt, dass das ja sowieso ein Parkplatz für Wohnmobile sei und diskutiert, ob und wie lange er dann da stehen dürfe. Und solange er den Wagen regelmäßig bewege, gehe das klar. Das Ordnungsamt kontrolliert bei sowas wohl den Reifenstand oder so ähnlich und sieht, wenn jemand länger steht, als erlaubt. Dann erst gibt es Ärger, vorher nicht.

Das ist mal eine nützliche Information, denke ich – für den Fall, dass mich meine Frau irgendwann wegen angeborener Faulheit aus dem Haus schmeißt und ich gezwungen bin mit dem Transit-Mann eine Siedlung zu gründen. Ich wundere mich ein wenig, dass der lauteste Brüllaffe dieser Gruppe bei diesem Thema so zahm bleibt und vermute, dass es eine Form von männlicher Rudelsolidarität sein muss.

Für Uschi geht das alles gar nicht klar. Schließlich handelt es sich nicht um ein Wohnmobil, sondern um einen PKW und da sei das nun mal VER-BO-TEN. Sie schreibt es nicht so wie ich, aber ich bin mir sicher, sie würde es so aussprechen. Und das scheint tatsächlich Uschis größtes Problem zu sein. Es ist verboten und deswegen darf es nicht sein. Der Uschi geht es ums Prinzip.

Verboten, tz. Ich finde ja, dass es verboten sein sollte, der Uschi eine virtuelle Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung zu gewähren. Weil es aber verboten ist, der Uschi das zu verbieten, konnte ich mich zum ersten Mal nicht zusammenreißen und musste auch meinen Senf dazu geben, um der Uschi unterschwellig und intelligent zu vermitteln, wie doof ich sie finde.

„Vermutlich hat der auch die ganzen gelben Säcke im Dorf geklaut.“, schreibe ich in Ironisch. Das tue ich, weil unter anderem dieses Thema sämtliche Uschis und Uschimänner bereits mehrere Wochen bewegt. Ein anderes Top-Thema sind die neuen Rolltonnen, ebenso heiß diskutiert.

Die gelben Säcke hätten wir also abgehakt. Die Rolltonnenthematik kriege ich auch noch eingeschleust. Dann haben die alles, was gerade in ihrem langweiligen Leben für Abwechslung sorgt in einem einzigen Beitrag und können sich richtig austoben, ganz zu Schweigen von der möglichen Zeitersparnis, die ich ihnen damit biete. Tolle Idee oder?

Ich muss nicht lange auf die passende Vorlage warten. Uschi selbst schenkt mir zwar einen Daumenhoch, was mich annehmen lässt, dass sie kein Ironisch lesen kann, aber alsbald grätscht Uschis Co-Uschi in diesen ungewollt harmonischen Moment und meint, dass der Transit-Mann die gelben Säcke nicht geklaut haben könne, denn sonst würde er seinen Müll ja nicht in die Gegend werfen. Daraufhin stelle ich die Frage in den Raum, wo er denn sonst mit seinem Müll hin soll, die blöden Rolltonnen passen doch in keinen PKW.

Tusch!

Da besorgte Bürger in der Regel humorbefreit sind und mich höchstwahrscheinlich ebensowenig verstehen, wie ich sie, werde ich natürlich direkt richtig hart angezickt. Ich weine jetzt noch. Vielleicht ist es aber auch meine geschmolzene Hirnmasse, die mir aus den Augenwinkeln rinnt. Da bin ich mir gerade nicht so sicher.

Gedankt hat mir übrigens niemand für die geniale Symbiose sämtlicher Themen, die das Dorf bewegen, und als ich den Beitrag vorhin zu Recherchezwecken nochmal aufrufen wollte, war er nicht mehr da. Das ganze Unverständnis war der Uschi wohl zu blöd. Vielleicht war sie auch ein wenig enttäuscht, dass sich kein wütender Mob zusammenrotten wollte, um den Störenfried zu vertreiben. Schade, wo es mir doch gerade anfing Spaß zu machen.

Im Ernst, sollte mich irgendwann im Morgengrauen, wenn ich nach einer durchzechten Nacht den Weg nach Hause wieder nicht finde beim Joggen bin, so eine Uschi hinterrücks anfallen und beißen, weil sie vielleicht denkt, dass ich ihr die frisch ausgeteilten gelben Säcke klauen will, und ich dann durch den Uschibiss so walkingdeadmäßig selbst zu einer Uschi werde, die dann in irgendwelchen Gruppen ihr vor Unwichtigkeit maximal bis zum Ortsschild stinkendes Meinungswürstchen rausdrückt, während die große Welt langsam zu einem überdimensionalen Kackhaufen verkommt, dann erschießt mich bitte. Zur Not tut es auch ein Kantholz.

Ich bin übrigens gespannt, wann hier die erste Dame mit dem Namen Uschi schreibt und mich verbal steinigt, weil ich den Namen Uschi so verunglimpfe. An dem Namen Uschi habe ich absolut nichts auszusetzen, vielmehr am Uschisein und das kann man auch, wenn man Petra, Claudia oder Hans-Günther heißt. Uschi heißen ist voll in Ordnung, auch wenn es jetzt nicht der favorisierte Name für eines meiner zahlreichen nicht vorhandenen Kinder wäre. Ein Tier fällt mir jetzt spontan auch nicht ein, welches ich so nennen würde. Obwohl, bei so einer ausgewachsenen englischen Bulldogge wäre das schon irgendwie lustig, vor allem wenn es ein Rüde ist.

Tusch!

 

Verrückt! Schlicht und ergreifend verrückt.

Da habe ich über Jahre Tagebuch geschrieben, damals noch so richtig, mit Stift und auf Papier, als das Wort Bloggen vermutlich noch gar nicht existent war, und über diesen einen Tag, diesen einen Augenblick, der mir mein ganzes restliches Leben so wichtig geblieben ist, der mich gewissermaßen hat überleben lassen, über diesen Tag habe ich nie etwas geschrieben? Kann das wirklich sein? Es gab immer mal Tage und Monate der Schreibflaute. Kann es tatsächlich sein, dass ich die wichtigste Erinnerung in meinem Leben nur auf die Innenwände meiner Hirnrinde gekritzelt habe?

Ich fasse es nicht und glaube es auch nicht, aber nach zweifachem Durchblättern der Tagebücher aus dem möglichen Zeitraum, habe ich nur einen Hinweis auf dieses Ereignis gefunden, aber nicht das Ereignis selbst. Das schmeckt mir ebensowenig wie der billige Whiskey, den ich dachte zu brauchen, um mit dem fertig zu werden, was mir auf der Suche in diesem Teil meines Lebens begegnen würde.

Tatsächlich ist mir beim Überfliegen schon so Einiges begegnet und was fast genauso schlimm ist, wie der verschwundene Tag, ist die Tatsache, dass ich mich an manche Ereignisse, die ich schriftlich festgehalten habe, gar nicht mehr erinnern kann. Nein, es ist nicht fast genauso schlimm, es ist weitaus schlimmer. Ich habe Momente zwischen uns vergessen, die wunderbar und unglaublich waren, die mir wichtig waren, die mein Lebensglück waren, die alles für mich waren. Jetzt lese ich davon, schlucke und kämpfe mit den Tränen, weil alles so herzzerreißend ist, aber ganz im Gegensatz zu diesem einen Moment, der unvergeßlich bleibt und nie auf Papier konserviert wurde, sind manche der auf Papier konservierten Momente einfach aus meiner Erinnerung verschwunden.

Es ist, als lese ich die Geschichte eines Anderen.