Schlagwort: Tod

19 – Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Mascha Kaleko

S.

Während meiner Zeit in Indonesien schriebst Du mir eine Nachricht.

Wie es Dich freut, dass ich glücklich zu sein scheine, Du meine Beiträge verfolgst, ich das alles verdient habe und Du es mir von ganzem Herzen gönnst.

Ich war überglücklich über Deine Nachricht nach all den Jahren, antwortete Dir, dass ich gerade unterwegs sei und vertröstete Dich auf später. Ich wollte Dir schreiben, aber hatte Dir so unendlich viel zu erzählen, dass ich es ewig vor mir her schob. Ich wartete auf den richtigen Moment, die Muße, um die letzten Jahre zusammenzufassen, das Leben, welches mehr ein Über-Leben ist. Glück ja, aber immer wieder hart erkämpft. Wenn sich Steine auf die Seele legen, ist die Schwerkraft der größte Feind.

Tag um Tag verging. Woche um Woche. Monate.

Anfang dieses Monats bist Du gestorben. Krebs. Ich wusste nicht, dass Du krank warst und dass es Abschiedsworte waren, die Du mir schriebst. Jetzt lese ich Deine Nachricht mit anderen Augen und mache dem Leben Vorwürfe, dass es mir nicht die Möglichkeit gelassen hat, Dich noch einmal in der Arm zu nehmen.

So oft habe ich an Dich gedacht, mir vorgenommen, mich bei Dir zu melden und Dir aus meinem Leben zu erzählen. Ich wollte so gerne Deinen Mann kennenlernen, weil ich neugierig war, wissen wollte, ob er ihm vielleicht ähnlich ist. Ihn, den wir beide so sehr geliebt haben. Ihn, dessen Taschentuch ich an meinem Rucksack zu Fuß durch halb Spanien getragen habe, um es am Cruz de Ferro zurück zu lassen, in der Hoffnung, ich könnte auch ihn dort zurück lassen.

Davon wollte ich Dir erzählen. Nur wir beide, bei einem Bier, wie früher. Ich wollte Dir erzählen, dass es vielleicht ein Leben ohne ihn gibt, aber es dieses Leben für mich niemals gab. Und ich hätte Dir mein Leben gerne gezeigt. Diese hässliche Stadt in der ich seit Jahren wohne, aber die mittlerweile mein zu Hause ist, der Stadtteil mit seinem schönen Schlosspark, unser kleines Häuschen, die tapfere Frau an meiner Seite, die mit mir gegen die Schwerkraft kämpft, weil sie mich liebt, und das, obwohl der Großteil all meiner verfügbaren Liebe auf ewig von der Vergangenheit verschluckt wird.

Das kann ich nun nicht mehr tun und es kommt regelmäßig zu diesem kurzen Moment, Sekunden nur, in denen mich diese Erkenntnis wie ein Keulenschlag hinterrücks zu Boden knüppelt, mir damit die Luft aus dem Lungen presst und mich vollkommen fassungslos macht. Ein Stein mehr auf meiner Seele und das Gefühl, ihn mit Dir noch ein Stück mehr verloren zu haben.

Ich habe überlegt, zu Deiner Beerdigung zu fahren, aber habe mich dann dagegen entschieden. Du bist längst woanders. Alles was und jeden den ich dort vorgefunden hätte, wollte ich nicht sehen. Von Dir verabschieden kann ich mich überall auf dieser Welt. Irgendwann werde ich wieder zu Fuß Spanien durchqueren und dann nehme ich Dich mit zum Cruz de Ferro.

Ob sich für Dich das erfüllt hat, wonach ich mich seit bald neunzehn Jahren sehne? Irgendwann werde ich es erfahren. Bis dahin kämpfe ich weiter gegen die Schwerkraft, halte die Stellung, gebe nicht auf, versuche die Steine von meiner Seele zu schütteln, wie Staub aus einem alten Tischtuch. Das bin ich Euch schuldig – Dir und ihm.

Jeder Tag ist so verdammt kostbar. Immer wieder die selbe Lektion. Das Leben ist selten fair, aber dafür umso lehrreicher. Doch ich bin ein schlechter Schüler. Was ich heute weiß, habe ich morgen schon wieder vergessen und statt zu leben überlebe ich weiter am Leben vorbei, warte auf den richtige Moment, um ihn am Ende zu verpassen.

Vielleicht aber ist einfach alles eine Frage der Wiederholungen, so wie damals, beim kleinen Einmaleins. Das habe ich schließlich auch gelernt und kann es noch heute.

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