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Sesselsurrealismus

Es ist schon wieder vierzehn Uhr und ich frage mich, wo die Stunden hin sind. Ich sitze in meinem Sessel und trage noch meine Schlafklamotten. Eine kurze und dünne Baumwollhose und mein Superman-Shirt. Was soll das auch für einen Sinn machen, eine kurze Hose gegen eine kurze Hose und ein Shirt gegen ein Shirt zu tauschen, nur weil man vorher drin gepennt hat? Wenn man sich Nachmittags für ein Schläfchen auf das Sofa haut, zieht man sich doch auch nicht erst um.

Würde ich mit meinen Schlafklamotten in den Supermarkt gehen, niemand würde es merken. Es würde übrigens auch niemand merken, wie witzig es ist, in einem Superman-Shirt einen Supermarkt zu betreten. Liegt aber vielleicht auch daran, weil Supermärkte im allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel nicht Supermarkt heißen, sondern bei ihren speziellen Eigennamen genannt werden. Wenn ich sage, ich gehe mit meinem Superman-Shirt in den Aldi, finde ich das auch null witzig.

Karl liegt auf dem Sofa und hört sich mein Gedankenwirrwarr an. Zwischendurch nickt er oder macht hm-hm. Manchmal nickt er auch und macht zeitgleich hm-hm. Oder zieht das hm in die Länge, etwa so: Hmmmmmm….
Das ist dann auch schon alles, und irgendwie reicht mir das auch gerade. Mehr brauche ich nicht. Einen von Karls oberschlauen Lehrervorträgen könnte ich heute sowieso nicht ertragen, und ich glaube, er weiß das.

Ich komme mir ein bisschen vor, wie beim Therapeuten, mit dem Unterschied, dass mein Therapeut liegt und ich sitze. Und gratis ist es auch, heute zumindest. Sonst kostet mich Karl nämlich hin und wieder ein paar meiner zuckenden Nerven, weil er ständig versucht, mich auf den Pfad der Erleuchtung zu führen. Heute allerdings nicht. Keine Schlaumeiereien, keine zuckenden Nerven.

Irgendwie fühle ich mich heute ziemlich verloren, aus Gründen. Ich fing schon vorgestern an, mich zu verlieren. Heute bin ich nur noch undeutlich zu erkennen, irgendwie wächsern, und wenn das in dem Tempo so weiter geht, wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen gar nicht mehr wahrnehmbar. Ich werde durchsichtig sein und es wird aussehen, als habe ich wie ein Chamäleon die Farbe des Sessels angenommen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob jemand nach etwas aussehen kann, wenn er nicht mehr zu sehen ist.

Karl hat sich schon lange nicht mehr gerührt und auch schon einige Minuten keines seiner lehrerhaften Hm-hms von sich gegeben. Ich frage mich, ob er mich noch sehen kann, traue mich aber nicht, mich irgendwie übermäßig bemerkbar zu machen, weil ich Angst habe, dass sich meine Befürchtungen bewahrheiten könnten.

»Mach dir keine Sorgen, Rocko. Wer bereit ist, dich zu sehen, wird dich sehen, auch wenn du dich selbst aus den Augen verlierst. So ist das übrigens bei allen Dingen auf dieser Welt. Der Mut zur Sehhilfe ist das Entscheidende.«

Karls plötzliche Worte erschrecken mich so sehr, dass mir fast die Kaffeetasse aus der Hand fällt. Dabei merke ich, dass sie längst leer ist. Ein wenig Milchschaum klebt eingetrocknet am Tassenrand. Ganz ohne Erleuchtung ging’s dann wohl doch nicht. Mein linkes Augenlid beginnt leicht zu zucken.

»Übrigens kann man dich auch bald riechen, wenn du so weiter machst. Da kannst du unsichtbar sein, wie du willst. Auch die Blinden werden dich finden.«, Karl setzt sich auf und schenkt mir ein breites Grinsen, bevor er aufsteht, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

»Du Witzbold!«, ich werfe ihm eine Schachtel Streichhölzer hinterher, weil gerade nichts anderes greifbar ist und ich ein Buch dann doch für zu gewagt halte. Ich bereue meinen Entschluss allerdings ziemlich schnell, weil der Inhalt der Schachtel sich im Flug quer durch das Zimmer verteilt, bevor die Schachtel selbst unter den Tisch segelt. Hätte ich mal ein Buch genommen. Karl öffnet sein Bier, prostet mir zu und lehnt sich lässig an die Küchenanrichte.

»Also ich hätte ja eines der Bücher da unten genommen,… schon aus rein physikalischen Gründen.«, sagt er und zeigt auf den stetig wachsenden Bücherstapel neben meinem Sessel.
Jetzt zuckt auch ein Teil meiner Unterlippe.

Kirchenglocken läuten, es ist schon sechs. Verrückt, wo sind denn die letzten vier Stunden schon wieder hin? Im Lokal unter meinem Fenster läuft Fussball. Deutschland spielt, es ist nicht zu überhören. Einigkeit und Recht und Freiheit.
Brot und Spiele, um das Offensichtliche vorübergehend unter den Stadionrasen zu kehren, wo die zuvor besungenen Werte schon lange vergraben liegen. Bemerkenswert, wie gut dieses Prinzip schon seit Jahrhunderten immer wieder funktioniert. Vielleicht ist ja wirklich nicht die Unsichtbarkeit das Problem.

Apropos Brot und Spiele: Langsam kriege ich Hunger.
Und pinkeln muss ich auch.

Tor für Deutschland.