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„Evamaria – Du kannst aber auch Evi sagen“

Ich war sieben oder acht, als ich sie kennen lernte. Evi wohnte damals, zusammen mit ihrer Mutter, direkt neben meiner besten Freundin, die heute meine Schwester ist, aber das ist eine andere Geschichte. Bevor ich Evi kennen lernte, lernte ich allerdings erstmal Evis Nichte kennen, die aus Lüneburg kam und zu Besuch bei ihrer Tante war.

Ich weiß nicht mehr, welche Jahreszeit wir damals hatten, aber es war sonnig und warm und wir verbrachten den ganzen Tag im Garten, spielten Verstecken und was man in diesem Alter eben sonst so spielt. Am späten Nachmittag kam Evi, stellte sich mir als „Evamaria – Du kannst aber auch Evi sagen“ vor und spielte mit uns Fangen. Sie muss damals schon Mitte oder Ende Vierzig gewesen sein und ich war fasziniert von ihr. Eine erwachsene Frau, die sich auf die Ebene eines Kindes begeben konnte – das kannte ich bis dato nicht.

Nach diesem Nachmittag besuchte ich Evi auch weiterhin. So begann unsere Freundschaft und es war eine Freundschaft, trotz dieses großen Altersunterschiedes. Vielleicht lag es daran, dass ich schon in jungen Jahren viel gesehen hatte und ihr dagegen immer noch eine gewisse kindliche Unbeschwertheit anhaftete. Wir trafen uns irgendwo auf der Mitte. Evi nahm mich ernst, behandelte mich nicht wie ein Kind, vergaß dabei aber auch nicht, dass ich eines war. Sie ließ mich einfach sein und unterstütze mich beim Werden.

Ich grub ihren Garten um, half ihr beim Tapezieren und sie zeigte mir, wie man richtig schwarzen Tee trinkt und wie man richtig den Tisch deckt – „der Teelöffel kommt rechts neben die Tasse auf den Unterteller“. Sie war immer für mich da und das änderte sich auch nicht, als ich älter wurde. In ihrem Wohnzimmer klangen viele meiner Partynächte aus. Kam ich nachts aus der Stadt und sah bei ihr noch Licht, musste ich keine Scheu haben zu klingeln. Wir philosophierten über das Leben und niemand kannte und verstand die Geschichte um meine erste große Liebe so wie sie – all die Jahre. Niemand konnte so faszinierend aus dem Leben erzählen, wie sie.

Sie war es, die mir zu meinem achtzehnten Geburtstag ein Gedicht schrieb und es vor allen Gästen vortrug. Sie war es, die mir kurz nach Erhalt meines Führerscheins ihren Scirocco lieh und mir nicht den Kopf abriss, als ich ihn verbeult wieder brachte. Sie war es, die mit mir eine Reise nach Dresden, Berlin und Potsdam machte und vertrauensvoll neben mir auf dem Beifahrersitz schlief, obwohl ich den Scirocco verbeult hatte. Sie war es, die mich in meinem kleinen Einzimmerappartement in Köln besuchte und sich von mir ein Wochenende mein neues Leben zeigen ließ.

Sie war es, die den Löwenanteil dazu beigetragen hat, dass ich der Mensch werden durfte, der ich jetzt bin. Bei ihr kamen meine Finger zum ersten mal in Berührung mit einem Klavier und mein Geist mit den wesentlichen Dingen des Lebens. Lyrik, Literatur, Musik und Bedingungslosigkeit. Nur für Politik konnte sie mich nie begeistern, wenn sie es auch immer wieder versuchte. Dafür begeisterte sie mich umso mehr für halbtrockenen Sherry, den ich auch heute noch sehr gerne trinke. Oft denke ich dabei an Evi und an die vielen Nächte, die wir uns mit Gott, der Welt und Herrn Sandeman um die Ohren geschlagen haben.

Durch mein Leben in Köln wurde der Kontakt weniger, brach sogar fast gänzlich ab, und als ich vor bald drei Jahren wieder zurück nach Arnsberg kam, stand Evi kurz davor in eine Seniorenresidenz nach Lüneburg zu ziehen. Ich schob den Abschied ewig vor mir her, weil ich mich nicht mit der Tatsache auseinander setzen wollte, dass sie nun nicht mehr da sein würde, so wie sie es immer war und dass ich nie wieder mitten in der Nacht bei ihr würde klingeln können. Zwei Tage vor ihrem Umzug besuchte ich sie.

Der Abschied war kurz. Ich wollte ihr so viel sagen, aber mein Mund konnte die Worte nicht frei geben. Evi gab mir ihre neue Adresse und ich versprach ihr zu schreiben, aber habe es bis heute nicht getan. Heute werde ich es tun und ihr sagen, dass ich jedes Mal, aber auch wirklich jedes Mal beim Decken eines Kaffeetisches an sie denken muss – sobald ich den ersten Teelöffel rechts neben die Tasse auf den Unterteller lege.

© Antje Münch-Lieblang

Zwischenwelten

Es beeindruckt mich, wie andere Menschen ihr Leben meistern. Ich möchte auch so sein. Einer von ihnen. Ich möchte auch morgens aufstehen und den Dingen mit Vorfreude, Angriffslust, Motivation und Verantwortungsbewusstsein gegenüberstehen, um dann abends zufrieden ins Bett zu fallen, mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben. 

Zeitverschwendung ist mir zuwider, und dennoch mache ich mit meinem Leben nichts anderes, als es zum Fenster herauszuwerfen. Meine Tage sind leere Tage, weil ich nicht mehr in der Lage bin, sie mit Sinn zu füllen. Abends möchte mir der Kopf explodieren, voll von der ganzen Leere, die er den ganzen Tag in sich aufgesogen hat. Manchmal muss ich ihn dann gegen die Wand schlagen, damit diese Leere sich in Schmerzen wandelt und mich nicht wahnsinnig macht. Zudem gibt mir der Schmerz das Gefühl, noch nicht tot zu sein.

Ich habe mich rückentwickelt. Das Lesen fällt mir schwer, denn die Konzentrationsfähigkeit ist verkümmert. Das Sprechen versuche ich zu vermeiden, weil die Worte, die ich irgendwann einmal gekannt habe, sich irgendwo in meinem Kopf verloren haben und sich in meinem Mund einfach nicht mehr bilden möchten. Mein Leben ist zurzeit wie ein Unfall. Ich bin Opfer, Sanitäter und Gaffer in einer Person. Während ich mir selbst im Weg stehe und mich daran hindere, mein Leben zu retten, sehe ich mir beim Verbluten zu.

Das Tragische an dieser Situation ist, dass sich etwas in mir weder für das Leben noch den Tod entscheiden kann. So dämmert mein Bewusstsein irgendwo dazwischen in einem halbkomaähnlichen Zustand dahin. Zu wach, um für immer einzuschlafen und zu schwach, um die Augen zu öffnen und mich aus dem ewigen Sterbezustand zu befreien. Ein Teufelskreis. Wenn ich mich doch nur für eine der beiden Seiten entscheiden könnte. Der Tod wäre ein erstrebenswerter Zustand, erscheint er mir doch zum jetzigen Zeitpunkt weitaus lebenswert, als das Leben mit all seinen Hindernissen, Schwierigkeiten und Entscheidungen, die es zu überwinden und zu treffen gilt.

Wenn ich groß bin, werde ich Tierärztin. Jetzt bin ich groß, aber geworden bin ich nichts, außer einem übergewichtigen Klumpen Fleisch irgendwo zwischen Selbstverliebtheit und einem Brechreiz beim eigenen Anblick im Spiegel, der mir auf qualvolle Art und Weise aufzeigt, was ich in meinem Leben bereits erreicht habe: nichts. Die Selbstverliebtheit wird zum Selbstmitleid. Manchmal denke ich, mein Gott hat mich verlassen, wie eine Ratte das sinkende Schiff. Dabei weiß ich, dass eigentlich ich ihn verlassen habe, wie ein Spielzeug, an dem man kein Vergnügen mehr hat, oder wie ein Kleidungsstück, das einem nicht mehr passt.

Manchmal zwinkert er mir zu und manchmal lässt er mich spüren, wie traurig er ist, um mir zu zeigen, dass er noch da ist. Früher haben wir viel miteinander geredet, ich mit Worten und er mit kleinen Wundern. Heute ist es nur noch er, der mir hin und wieder eine kleine Aufmerksamkeit schenkt, damit ich mich an ihn erinnere. 

Ich kann nicht leugnen, dass ich denselben Fehler gemacht habe wie die Mehrheit meiner Artgenossen. Den Verlust meines Lebenssinns schrieb ich auf seine Karte. Schließlich ist der Sinn des Lebens eine kostbare Habe. Die wenigsten finden ihn. Doch schmerzhafter, als den Sinn des Lebens niemals zu finden, ist, ihn vermeintlich gefunden zu haben und ihn dann wieder zu verlieren. Mit dem Gedanken, dass das, was ich dafür hielt, vielleicht gar nicht der Sinn meines Lebens war, konnte ich mich bis heute nicht anfreunden. 

Sicher liegt hier der Hund begraben. Es ist einfacher, ihn unter der Erde vergammeln zu lassen, als ihn auszubuddeln und ihn ausgestopft in die Wohnzimmerecke zu stellen. Es ist einfacher und es ist sicherer. Unsicherheit macht mir Angst. Das Leben macht mir Angst. Die Menschen machen mir Angst. Ich selbst mache mir Angst. Die größte Angst macht mir die Angst selbst. Es ist einfacher, mich in meine Höhle zurückzuziehen und mich der fortwährenden Rückentwicklung auszuliefern. Lieber sicher in der Dunkelheit meiner wachsenden geistigen Armut, als draußen von Auseinandersetzungen, Entscheidungen und der Angst vor alledem gefressen zu werden.

Manchmal möchte etwas in mir den Kampf antreten gegen das, was sich meines Verstandes und meines Lebenswillens bemächtigt hat. Aber mir fehlt einfach die Kraft dazu. Vielleicht habe ich auch einfach noch nicht die richtigen Waffen gefunden.