Von der Mitte des Lebens und von einer geplanten Rebellion mit Reis, die niemals stattfand

Das muss sie sein, die berühmteste aller Lebenskrisen, die Krise unter den Krisen, die im mittleren Alter ganz urplötzlich zuschlägt.

Eine aller Wildheit entwachsene und beständige Beziehung, verlässliche Freunde, eine solide Arbeit mit ausreichendem monatlichen Einkommen, Haus, Auto, Urlaub mit gelegentlichen Reisen außerhalb Europas, nicht rundum gesund, aber auch noch nicht tot – alles gute Vorraussetzungen, damit es noch ein paar Jahrzehnte relativ problemlos so weiter geht, zumindest was die eben aufgezählten Faktoren angeht. Und das ist das Problem an der Problemlosigkeit. Es ist so verflucht absehbar.

Mein Körper wird nicht mehr jünger und was jetzt hängt, hängt morgen nur noch tiefer. Ich werde kein Pianist mehr, ich werde kein Künstler mehr, ich werde kein Schauspieler mehr, ich werde kein Frauenheld mehr, ich werde weder reich noch berühmt, ich wandere auch nicht mehr ins Ausland aus, ich schreibe wahrscheinlich nicht einmal mehr ein Buch, auch wenn das der einzige Traum ist, den ich noch nicht vollkommen aufgegeben habe.

Nichts von all dem was ich werden wollte bin ich geworden. Geworden bin ich stattdessen was ich niemals werden wollte. Langweilig und unsichtbar. Letzteres ist Fluch und Segen zugleich, aber das würde jetzt den Jammer-Rahmen sprengen.

Irgendwann hat das Außen das Innen altersmäßig überholt und was anfangs noch nicht ins Gewicht fiel, hat jetzt sichtbares Übergewicht. Die Altersdiskrepanz ist mittlerweile so groß, dass mein Körper großelterliche Gefühle für mein Innenleben hegt. Innen möchte ich noch die ganze Welt verändern, außen fällt es mir manchmal schon schwer, die Pyjamahose gegen eine Jogginghose zu tauschen.

„Genug war früher nie genug für mich. Heute ist mir nichts schon viel zu viel.“, singt Faber in einem seiner Lieder. Treffender könnte ich es gar nicht beschreiben.

„Das kann doch nicht alles sein!“, protestiert mein innerer Peter Pan und möchte losfliegen, während ich mich ächzend mit morgendlich steifen Gelenken treppabwärts Richtung Küche bewege, um mir einen weiteren Kaffee zu holen, obwohl mir mein Magen schon die erste Tasse nicht verzeiht. Ich bin noch kein Fünfzig und fühle mich bereits wie mindestens Siebzig. Das ist doch scheiße! Ich kann nur hoffen, dass der Graben zwischen meinem Körper und mir mit zunehmendem Alter geringer wird und nicht noch größer, denn sonst falle ich irgendwann hinein.

Gleich fahren wir in ein schwedisches Möbelhaus und kaufen Dinge, die wir gar nicht wirklich brauchen, um weiter einen Grund zu haben, uns über das viele Zeug zu beschweren, welches sich im Laufe der Zeit ansammelt. Dann werde ich dort etwas essen, obwohl ich keinen Hunger habe, damit ich auch weiterhin einen Grund habe, mich über das Fett zu beschweren, welches mir mehr und mehr die Sicht zu meinem Geschlechtsteil versperrt.

Vielleicht aber mache ich auch irgendwas total Verrücktes, springe in der Bettenabteilung von Matratze zu Matratze, ziehe mich im Badezimmer einer Musterwohnung aus und steige unter die Musterdusche (Mustertoiletten sind ja mittlerweile gesichert), bewerfe irgendjemanden mit Gemüsebällchen oder, jetzt wird es vollkommen absurd, wechsle einfach mal die Beilage, esse Reis statt der üblichen Pommes und stelle damit die Welt ein wenig auf den Kopf. Meine Welt zumindest, denn ich mag Pommes viel lieber als Reis. (Durch Reis verdiene ich zur Zeit meinen Lebensunterhalt und brauche in deshalb nicht auch noch in meiner Freizeit. Jetzt fragt ihr euch sicher alle, wo der liebe Rocko wohl arbeitet. Ich werdet es niemals erraten.) Wenn ich danach noch Energie habe, setze ich noch eins drauf und lasse einfach das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr auf dem Tisch sehen. Die Rebellion des Rocko Kakoschke.

Eine Stunde später.

Wir sind nicht in besagtes Möbelhaus gefahren und haben stattdessen im Supermarkt gegenüber lauter Lebensmittel gekauft, die wir nicht brauchten, was irgendwie in die selbe Richtung geht, besonders bezüglich des Sichtverhältnisses zu meinem Geschlechtsteil. Essen, der Sex des Alters. Ist nicht nur ein Mythos, lasst es euch gesagt sein.

Der glatte Boden im Supermarkt animierte mich, durch den Süßigkeitengang zu schlittern. Und mit einer mißlungenen Pirouette wäre ich fast in das Schokoladenregal gekracht. Mission ungewollt erfüllt, würde ich sagen. Ich gebe zu, es wäre weitaus spektakulärer gewesen, wäre ich tatsächlich in das Schokoladenregal gekracht. Es ist also definitiv noch Luft nach oben, was den Richtungswechsel in meinem Leben angeht und somit scheinbar nicht vollkommen aussichtslos. Der Anfang ist gemacht. Vielleicht schreibe ich ja wirklich noch ein Buch.

Rocko rockt den Supermarkt des Lebens. Und ihr werdet alle dabei sein. Irgendwann.
Bis dahin passiert erstmal:

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Oder zumindest nicht viel.

Der Typ

Ich war damals elf und da war dieser Typ mit der Boa im Keller. Er hatte irgendwie keinen richtigen Namen, jedenfalls nicht für uns Kinder. Wir nannten ihn einfach der Typ, weil es einfacher war und weil wir uns verdammt lässig und verwegen vorkamen, wenn wir einfach nur der Typ sagten.

Der Typ war irgendwie schon immer da, wirkte leicht angeschmuddelt und roch wie Wäsche, die man zu feucht in den Kleiderschrank getan hatte und die stockig geworden war. Ich stellte mir vor, dass es gar nicht an den Klamotten lag, die er trug, sondern an ihm selbst und malte mir aus, dass er sich nach dem Baden statt ins Bett oder aufs Sofa nass in den Kleiderschrank legte zum Schlafen. Den Gedanken fand ich irgendwie ganz prima, auch wenn ich wusste, dass ich mir das nur ausgedacht hatte und er nur in meinem Kopf in einem Kleiderschrank schlief und nicht wirklich.

Er hatte die Wohnung über uns, aber lebte mehr in dem zur Wohnung gehörenden Kellerverschlag, der sich schräg gegenüber unseres Verschlages befand. Dass er mehr im Keller war, als in seiner Wohnung, wusste ich, weil ich ihm mindestens dreimal am Tag begegnete. Morgens, wenn ich zur Schule rannte und er in den Keller ging – ich rannte immer, weil ich immer zu spät dran war – abends, wenn ich mit unserem fetten Dackel Rödel – eigentlich Rolf – nochmal vor die Tür musste und er aus dem Keller kam und dazwischen, wenn Mutti mich in den Keller schickte, um Eingemachtes oder Kartoffeln hoch zu holen. Dann saß er meinstens in seinem Kellerverschlag, den Rücken zu den vernagelten Sperrholzbrettern, die eine Tür miemten, aber den Keller eher aussehen ließen, wie einen überirdischgroßen Karnickelstall, und machte einen beschäftigten Eindruck.

Er nickte bei jeder Begegnung immer ausdruckslos, sagte aber nie etwas. Selbst im Keller, schielte er über seine linke Schulter hinweg durch die Sperrholzbretter, warf mir einen kaum merklichen Blick zu, wenn er mich hörte und nickte. Es hatte etwas von Verschwörung, als teilten er und ich ein Geheimnis, etwas von dem nur wir beide wussten und das seinerseits mit einem verschwörerischen Nicken regelmäßig besiegelt wurde. Allerdings machte er es auch bei anderen Leuten und wahrscheinlich hatte in all den Jahren niemand ein einziges Mal seine Stimme gehört.

Ich fragte mich manchmal, wie er wohl beim Bäcker Brötchen holte oder Telefongespräche führte und stellte mir vor, dass ich ein Bildtelefon besaß – so eines wie in Agentenfilmen, worüber die Agenten immer Aufträge erhalten von jemanden, dessen Kopf im Fernsehen nie zu sehen ist. Mit so einem Ding könnte ich ihn dann anrufen und er könnte nicken, so wie er es immer tat. So ein Bildtelefon wäre schon eine tolle Sache gewesen, aber ich beschloß, dass das eine meiner blödesten Fantasien war, denn ich hätte ihn nie angerufen, auch nicht mit Bildtelefon.

Mutti sagte immer, dass sie dem nicht im Dunkeln begegnen wolle und ich solle auf mich acht geben und nicht mit ihm mitgehen, wenn er mich anspräche. Ich sah da allerdings keine Gefahr, denn er sprach ja nie. Er nickt nur, er lief die Treppen runter und rauf und er saß in seinem Keller und tat irgendetwas und nickte.

Vati sagte, er repariere dort alte Radios und Fernseher und verdiene sich so seinen Lebensunterhalt. Woher Vati das wusste, weiß ich nicht, aber ich hatte ihn auch nie gefragt. Möglicherweise war es nur eine Vermutung, die ich, so oft ich den Typen im Keller schon gesehen hatte, nicht hätte bestätigen können, da er immer so saß, dass ich nichts erkennen konnte – abgesehen von seinem angedeuteten Nicken. Und wenn er nicht dort saß, was sehr selten vorkam, war sein Keller von innen mit einem speckigen Segeltuch verhangen, so dass sich nichts in Erfahrung bringen lies.

© Antje Münch-Lieblang

Fortsetzung folgt … vielleicht eines schönen Tages!

S.

Während meiner Zeit in Indonesien schriebst Du mir eine Nachricht.

Wie es Dich freut, dass ich glücklich zu sein scheine, Du meine Beiträge verfolgst, ich das alles verdient habe und Du es mir von ganzem Herzen gönnst.

Ich war überglücklich über Deine Nachricht nach all den Jahren, antwortete Dir, dass ich gerade unterwegs sei und vertröstete Dich auf später. Ich wollte Dir schreiben, aber hatte Dir so unendlich viel zu erzählen, dass ich es ewig vor mir her schob. Ich wartete auf den richtigen Moment, die Muße, um die letzten Jahre zusammenzufassen, das Leben, welches mehr ein Über-Leben ist. Glück ja, aber immer wieder hart erkämpft. Wenn sich Steine auf die Seele legen, ist die Schwerkraft der größte Feind.

Tag um Tag verging. Woche um Woche. Monate.

Anfang dieses Monats bist Du gestorben. Krebs. Ich wusste nicht, dass Du krank warst und dass es Abschiedsworte waren, die Du mir schriebst. Jetzt lese ich Deine Nachricht mit anderen Augen und mache dem Leben Vorwürfe, dass es mir nicht die Möglichkeit gelassen hat, Dich noch einmal in der Arm zu nehmen.

So oft habe ich an Dich gedacht, mir vorgenommen, mich bei Dir zu melden und Dir aus meinem Leben zu erzählen. Ich wollte so gerne Deinen Mann kennenlernen, weil ich neugierig war, wissen wollte, ob er ihm vielleicht ähnlich ist. Ihn, den wir beide so sehr geliebt haben. Ihn, dessen Taschentuch ich an meinem Rucksack zu Fuß durch halb Spanien getragen habe, um es am Cruz de Ferro zurück zu lassen, in der Hoffnung, ich könnte auch ihn dort zurück lassen.

Davon wollte ich Dir erzählen. Nur wir beide, bei einem Bier, wie früher. Ich wollte Dir erzählen, dass es vielleicht ein Leben ohne ihn gibt, aber es dieses Leben für mich niemals gab. Und ich hätte Dir mein Leben gerne gezeigt. Diese hässliche Stadt in der ich seit Jahren wohne, aber die mittlerweile mein zu Hause ist, der Stadtteil mit seinem schönen Schlosspark, unser kleines Häuschen, die tapfere Frau an meiner Seite, die mit mir gegen die Schwerkraft kämpft, weil sie mich liebt, und das, obwohl der Großteil all meiner verfügbaren Liebe auf ewig von der Vergangenheit verschluckt wird.

Das kann ich nun nicht mehr tun und es kommt regelmäßig zu diesem kurzen Moment, Sekunden nur, in denen mich diese Erkenntnis wie ein Keulenschlag hinterrücks zu Boden knüppelt, mir damit die Luft aus dem Lungen presst und mich vollkommen fassungslos macht. Ein Stein mehr auf meiner Seele und das Gefühl, ihn mit Dir noch ein Stück mehr verloren zu haben.

Ich habe überlegt, zu Deiner Beerdigung zu fahren, aber habe mich dann dagegen entschieden. Du bist längst woanders. Alles was und jeden den ich dort vorgefunden hätte, wollte ich nicht sehen. Von Dir verabschieden kann ich mich überall auf dieser Welt. Irgendwann werde ich wieder zu Fuß Spanien durchqueren und dann nehme ich Dich mit zum Cruz de Ferro.

Ob sich für Dich das erfüllt hat, wonach ich mich seit bald neunzehn Jahren sehne? Irgendwann werde ich es erfahren. Bis dahin kämpfe ich weiter gegen die Schwerkraft, halte die Stellung, gebe nicht auf, versuche die Steine von meiner Seele zu schütteln, wie Staub aus einem alten Tischtuch. Das bin ich Euch schuldig – Dir und ihm.

Jeder Tag ist so verdammt kostbar. Immer wieder die selbe Lektion. Das Leben ist selten fair, aber dafür umso lehrreicher. Doch ich bin ein schlechter Schüler. Was ich heute weiß, habe ich morgen schon wieder vergessen und statt zu leben überlebe ich weiter am Leben vorbei, warte auf den richtige Moment, um ihn am Ende zu verpassen.

Vielleicht aber ist einfach alles eine Frage der Wiederholungen, so wie damals, beim kleinen Einmaleins. Das habe ich schließlich auch gelernt und kann es noch heute.