Schlagwort: Jugendsünden

Tagesgedanken

Wenn ich mich mit dem Fahrrad zur Arbeit bewege, fahre ich immer an der Realschule vorbei. Heute hörte ich das Trillerpfeifengepfeife und Vuvuzelagetröte schon aus weiter Ferne. Nachdem an der Schule, an der ich zur Zeit arbeite, die Abiturienten am Mittwoch die Sau rauslassen durften, dürfen es heute die Zehnerklassen der Realschule und feiern feuchtfröhlich ihren Absch(l)uss. Mit feuchtfröhlich sind natürlich nicht nur die Wasserpistolen gemeint.

Ich bin auch zur Realschule gegangen. Mein Abschluss war 1994. Wahnsinn, sechzehn Jahre ist das jetzt her. Ich kann mich noch relativ gut daran erinnern. Wir haben die Schule in eine Art Tempel verwandelt und unseren damaligen Direktor zum Oberguru erklärt, auf einen Thron gesetzt und mit Fächern bewedelt. Nachdem wir die Schule ordentlich auf den Kopf gestellt hatten, die gesammelte Lehrer- und Schülerschaft ausreichend unter uns gelitten hatte, wurden die Feierlichkeiten traditionell auf der örtlichen Schlossruine weiter geführt, um da irgendwann rotzevoll auf der Wiese zu liegen oder mit dem Kopf in irgendeinem Gebüsch zu enden.

Wir fühlten uns ganz furchtbar erwachsen. Wenn ich mir heute die Schüler ansehe, die damals wir waren, merke ich, wie weit wir damals noch vom Erwachsenwerden entfernt waren und damit genau richtig lagen, auch wenn wir es nicht wussten. Wir haben das Leben problemlos auf die leichte Schulter genommen, machten uns alles einfach und sahen die Welt zu unseren Füßen liegen. Ehrlich gesagt, bin ich auch heute noch weit weg vom Erwachsenwerden, aber der Ernst des Lebens erinnert mich manchmal relativ unsanft daran, dass es nicht immer nur geradeaus geht wie früher, als man noch dachte, Lebensmittel wachsen im Kühlschrank der Eltern.

Literarische Jugendsünden

Als ich noch jung und unvernünftig war, wollte ich unbedingt Schriftstellerin werden. Jetzt bin ich nicht mehr ganz so jung und auch nicht mehr ganz so unvernünftig, aber dennoch unvernünftig genug, um immer noch davon zu träumen, dass irgendjemand bereit sein könnte, für mein persönliches Gedankengut zu zahlen. Nicht weiter bedenklich, mag man jetzt denken. Sehr bedenklich allerdings, wenn man folgendes Werk kennt, welches ich soeben aus den Untiefen meiner Festplatte gezogen habe. Ein Werk aus längst vergangenen und relativ niveaulosen Tagen, welche geprägt waren von großstadtlebiger Freiheit, grenzenloser Kreativität und dem Was-kostet-die-Welt?-Gefühl gepaart mit übermäßigen Alkoholkonsum. Zieht es Euch rein Leute, aber erzählt mir hinterher nicht, Ihr hättet die unterschwelligen Warnungen nicht bemerkt!

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Es war wieder einer dieser Tage, die im Leben einer Käsefrau unvergesslich bleiben
Schon als ich aufstand und meine Pantoffeln nicht fand, wusste ich – es liegt etwas in der Luft. Es musste dieser unübertreffliche Geruch nach ranzigem Maigouda meiner unpantoffelten Füße gewesen sein, der mich mit Schrecken und knurrendem Magen daran erinnerte, dass ich noch nicht gefrühstückt hatte. Wie denn auch, ich war ja gerade erst aufgestanden.
Ich warf einen kontrollierenden Blick aus dem Panoramafenster meines Apartments im zehnten Stock. Alle meine Fans waren endlich verschwunden, die schon seit Wochen am Fuße meines Penthouses gecampt hatten und dort ständig im Kreis marschiert sind, mit Plakaten und Spruchbändern auf denen stand: Käse essen ist Käse!, Freiheit dem Käse! Und Gesetze gegen Käseesser! Jedes Mal, wenn ich ans Fenster trat, riefen sie: Zieh endlich aus, du Käseschänder! Also zog ich mich aus und dann bewarfen sie mich jedes Mal mit ganzen Schweinerippchen. Die Groupies sind heutzutage auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Die Luft war also wieder rein, jedenfalls außerhalb meiner siebenundzwanzig Quadratmeter. Auf dem Weg zum Kühlschrank stolperte ich über drei Flaschen Kölsch und landete mit dem linken Fuß in einer verfaulten, kalten Pizza vom letzten Wochenende. Waren es etwa doch nicht meine Füße, die diesen herrlichen Geruch nach ranzigem Maigouda durch die Wohnung trugen? Ich machte vor dem Badezimmerspiegel halt und dachte: Mensch, siehst du käsig aus. Der Blick in den Spiegel verriet mir, dass es mal wieder soweit war. Ich öffnete den Toilettendeckel, ließ mir die letzte Nacht noch einmal durch den Kopf gehen und mit einem gehörigen Bierschiss setzte ich noch eins drauf. Jetzt hatte ich wieder Farbe in den Backen… und auch mein Gesicht schien nicht mehr ganz so blass zu sein. Ich setzte meine Brille auf, doch es war die Falsche, denn sie war noch warm.
Der Tag fing schlimm an, aber es sollte noch schlimmer kommen. Als meine große Wanduhr neunmal schlug, schlug ich zurück. Rechts, links, rechts, links und voll auf die Zwölf. Niemand schlägt mich ungestraft. Es war jetzt schon die siebzehnte Wanduhr diesen Monat. So konnte es nicht weiter gehen. Vielleicht sollte ich mich doch langsam mal nach einer etwas moderneren Art der Zeitansage umsehen. Ich warf einen Blick über meine Schulter zu meinem Radiowecker. Langsam wurde es Zeit! Dabei viel mein Blick auf mein Bett. Ich hob meinen Blick wieder auf und sah, dass da noch der Pizzabote von letztem Wochenende lag. Ich fragte mich, ob er diesen Monat überhaupt noch mal aufsteht. Er war ziemlich blau und wurde von Tag zu Tag blauer.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Daher wehte der Wind und nicht von meinen Füßen und der Pizza. Die vermeintlichen Schuppen, welche mir von den Augen fielen, entpuppten sich übrigens als Kontaktlinsen. Blind wie ich war erreichte ich endlich den Kühlschrank. Dort überkam mich das Grauen. Ich vertröstete es auf später und öffnete die quietschende Kühlschranktür. Es gibt Tage, die kennen keine Gnade: Im Kühlschrank war kein Käse! So‘n Käse! Lag es etwa am Wetter oder hätte ich nach drei Monaten mal wieder einkaufen sollen? Vielleicht war es auch die Jahreszeit, denn wie jeder weiß und auch der Name schon sagt, wächst Maigouda nicht im Oktober. Hätte ich auch vorher drauf kommen können.
Und wenn sie wissen wollen, ob Maigouda wirklich nur im Mai wächst oder ob Frau Antje wegen ihrer fehlenden Kontaktlinsen die Kühlschranktür mit der Haustür verwechselt hat oder ob vielleicht das Grauen den Käse gegessen hat und ob der verfärbte Bettgenosse jemals wieder eine Pizza liefern wird, dann schalten sie ein, wenn es wieder heißt: Es war wieder einer dieser Tage, die im Leben einer Käsefrau unvergesslich bleiben.

(c) Antje Münch-Lieblang (1999)