I.
Sie scheint
unendlich und unvergänglich,
wenn wir uns nach etwas sehnen.
Wenn wir uns aber vor etwas fürchten,
werden Wochen plötzlich zu Tagen,
Tage zu Stunden,
Stunden zu Minuten
und Minuten zu Sekunden.
Ist dann der Augenblick da,
vor dem wir uns so fürchten,
wird die Zeit plötzlich wieder
unendlich und unvergänglich
und lässt die Qual kaum enden.
Wenn aber dieser langersehnte
Augenblick erreicht ist,
auf den wir ewig gewartet
zu haben scheinen,
werden Wochen wieder zu Tagen,
Tage zu Stunden,
Stunden zu Minuten,
und Minuten zu Sekunden.
Und alles ist vorbei,
bevor es überhaupt richtig
beginnen konnte.
Das ist Zeit – unerklärlich.
30. Dezember 1999 // © Antje Münch-Lieblang
II.
Es ist wahr,
die Zeit heilt Wunden.
Doch ebenso verursacht
die Zeit Schmerzen.
Sie reißt klaffenden
Wunden in dein Herz,
indem sie dir die
Menschen nimmt,
die du liebst.
Und diese Wunden
heilen niemals.
13. Februar 2000 // © Antje Münch-Lieblang
III.
Ich habe gehört,
der Mensch gewöhnt sich
angeblich an alles,
lässt man ihm nur
ausreichend Zeit dazu.
Wir gewöhnen uns
an eine neue Stadt,
eine neue Arbeit,
neue Menschen.
Wir gewöhnen uns
an eine neue Wohnung,
ein neues Bett,
die erste Mieterhöhung.
Wir gewöhnen uns
an ein neues Auto,
ein neues Fahrrad,
neue Schuhe.
Wir gewöhnen uns
an einen neuen Bundeskanzler,
die nächste Steuererhöhung,
Währungsreform.
Wir gewöhnen uns
an den Verlust der Sehkraft,
die erste Brille,
die dritten Zähne.
Wir gewöhnen uns
an den Verlust der Jugend,
das Alter, Tod.
Und letztendlich müssen wir
uns daran gewöhnen,
nie ausreichend Zeit
gehabt zu haben.
Denn an die Zeit
gewöhnen wir uns
niemals.
13. Februar 2000 // © Antje Münch-Lieblang