Zwischenwelten

Es beeindruckt mich, wie andere Menschen ihr Leben meistern. Ich möchte auch so sein. Einer von ihnen. Ich möchte auch morgens aufstehen und den Dingen mit Vorfreude, Angriffslust, Motivation und Verantwortungsbewusstsein gegenüber stehen, um dann abends zufrieden ins Bett zu fallen, mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben.

Zeitverschwendung ist mir zuwider und dennoch mach ich mit meinem Leben momentan nichts anderes, als es zum Fenster heraus zu werfen. Meine Tage sind leere Tage, weil ich nicht mehr in der Lage bin, sie mit Sinn zu füllen. Abends möchte mir dann der Kopf explodieren, voll von der ganzen Leere, die er den ganzen Tag in sich aufgesogen hat. Manchmal muss ich ihn dann gegen die Wand schlagen, damit diese Leere sich in Schmerzen wandelt und mich nicht wahnsinnig macht. Zudem gibt mir der Schmerz das Gefühl noch nicht tot zu sein.

Ich habe mich rückentwickelt. Das Lesen fällt mir schwer, denn die Konzentrationsfähigkeit ist verkümmert. Das Sprechen versuche ich zu vermeiden, weil die Worte, die ich irgendwann einmal gekannt habe, sich irgendwo in meinem Kopf verloren haben und sich in meinem Mund einfach nicht mehr bilden möchten.

Mein Leben ist zurzeit wie ein Unfall. Ich bin Opfer, Sanitäter und Gaffer in einer Person. Während ich mir selbst im Weg stehe und mich daran hindere, mein Leben zu retten, sehe ich mir beim verbluten zu. Das tragische an dieser Situation ist, dass sich etwas in mir weder für das Leben noch den Tod entscheiden kann und so dämmert mein Bewusstsein irgendwo dazwischen in einem halbkomaähnlichen Zustand dahin.

Zu wach, um für immer einzuschlafen und zu schwach, um die Augen zu öffnen und mich aus dem ewigen Sterbezustand zu befreien. Ein Teufelkreis. Wenn ich mich doch nur für eine der beiden Seiten entscheiden könnte. Der Tod wäre ein erstrebenswerter Zustand, erscheint er mir doch zum jetzigen Zeitpunkt weitaus lebenswerter, als das Leben mit all seinen Hindernissen, Schwierigkeiten und Entscheidungen, die es zu überwinden und zu treffen gilt.

Wenn ich groß bin, werde ich Tierärztin. Jetzt bin ich groß, aber geworden bin ich nichts, außer einem übergewichtigen Klumpen Fleisch irgendwo zwischen Selbstverliebtheit und einem Brechreiz beim eigenen Anblick im Spiegel, welcher mir auf qualvolle Art und Weise aufzeigt, was ich in meinem Leben bereits erreicht habe. Nichts. Die Selbstverliebtheit wird zum Selbstmitleid.

Manchmal denke ich, mein Gott hat mich verlassen, wie eine Ratte das sinkende Schiff. Dabei weiß ich, dass eigentlich ich ihn verlassen habe, wie ein Spielzeug, an dem man kein Vergnügen mehr hat oder wie ein Kleidungsstück, das einem nicht mehr passt. Manchmal zwinkert er mir zu und manchmal lässt er mich spüren, wie traurig er ist, um mir zu zeigen, dass er noch da ist. Früher haben wir viel miteinander geredet, ich mit Worten und er mit kleinen Wundern. Heute ist es nur noch er, der mir hin und wieder eine kleine Aufmerksamkeit schenkt, damit ich mich an ihn erinnere.

Ich kann nicht leugnen, dass ich denselben Fehler gemacht habe, wie die Mehrheit meiner Artgenossen. Den Verlust meines Lebenssinns schrieb ich auf seine Karte. Schließlich ist der Sinn des Lebens eine kostbare Habe. Die wenigsten finden ihn. Doch schmerzhafter, als den Sinn des Lebens niemals zu finden, ist ihn vermeintlich gefunden zu haben und ihn dann wieder zu verlieren. Mit dem Gedanken, dass das was ich dafür hielt, vielleicht gar nicht der Sinn meines Lebens war, konnte ich mich bis heute nicht anfreunden.

Sicher liegt hier der Hund begraben. Es ist einfacher, ihn unter der Erde vergammeln zu lassen, als ihn auszubuddeln und ihn ausgestopft in die Wohnzimmerecke zu stellen. Es ist einfacher und es ist sicherer. Unsicherheit macht mir Angst. Das Leben macht mir Angst. Die Menschen machen mir Angst. Ich mache mir Angst. Die größte Angst macht mir die Angst selbst.

Es ist einfacher, mich in meine Höhle zurück zu ziehen und mich der fortwährenden Rückentwicklung auszuliefern. Lieber sicher in der Dunkelheit mit meiner wachsenden geistigen Armut, als draußen von Auseinandersetzungen, Entscheidungen und der Angst vor alldem gefressen zu werden.

Manchmal möchte etwas in mir den Kampf antreten, gegen das, was sich meines Verstandes und meines Lebenswillens bemächtigt hat, aber mir fehlt einfach die Kraft dazu. Vielleicht habe ich auch einfach noch nicht die richtigen Waffen gefunden.

(Entstehungsjahr 2005)

© Antje Münch-Lieblang